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Claudia D. Bergmann | Allein am Tisch?
der Realität nicht betroffen sind. Anstatt also alleine am Tisch zu sitzen,
fand und erfand man im antiken und modernen Judentum neue Möglich-
keiten und Orte, um das Gemeinschaftsritual des Mahles beizubehalten.
Natürlich stimmt die moderne Verlegung des Mahlrituals in das Virtuel-
le nicht deckungsgleich mit der antiken Verlegung in die Kommende Welt
überein. Die Kommende Welt war Sehnsuchtsort, die virtuelle ist eine prak-
tikable Lösung. Die Kommende Welt bot fantastische Speisen und fantas-
tische Orte, die virtuelle Welt macht das gemeinsame Speisen möglich und
überwindet geografische Grenzen, belässt den Ort des gemeinsamen Mah-
les jedoch im Alltäglichen und Bekannten. In der Kommenden Welt ste-
hen die Speisen zur Freude der Mahlteilnehmer einfach zur Verfügung, ein
Mahl in der virtuellen Welt bedarf aber der Vorbereitung und Mühe. Außer-
dem wurde die Kommende Welt als ein Ort definiert, der zeitlich streng von
„dieser Welt“ getrennt ist, auch wenn die Zeitebenen dort verschmelzen
und es einen Anfang, aber kein Ende des Mahles gibt. Auch dieser Aspekt
kommt in der virtuellen Welt nicht zum Tragen, da sie eben auch in „dieser
Welt“ stattfindet und den Gegebenheiten hier angepasst ist.
Aus ritualtheoretischer Perspektive ist es interessant zu beobachten, dass
gewisse Aspekte des rituellen Mahlgeschehens in Krisensituationen in den
Hintergrund treten, andere dagegen wichtiger werden. So werden bei den
antik-jüdischen imaginierten Mahlritualen Aspekte wie Gemeinschaft,
Speisefülle und Freude betont. Wer für das Mahl verantwortlich ist, es li-
turgisch leitet, oder wie das Mahl hinsichtlich Anfang und Ende auf der
Zeitschiene einzuordnen ist, wird selten bedacht. In der Krisensituation zu
Pessach 2020/5780 waren Gemeinschaftsgefühl und die Möglichkeit zur
Traditionsweitergabe wichtiger als liturgische und halachische Korrektheit
oder die Art der verfügbaren Speisen auf dem Tisch.
Diese Kreativität, die das Nötige beibehält und das gedanklich Mögliche
ausweitet, war und ist die Antwort auf die Gefahr, die dem Ritual in Kri-
sensituationen droht. Die Langlebigkeit von Ritualen schafft eine Brücke
zwischen Vergangenheit und Zukunft, die die als schwierig empfundene
Gegenwart überschreitet. Die Robustheit von Ritualen erlaubt temporäre
Unterbrechungen in ihrer Durchführung. Die Flexibilität von Ritualen lädt
zu Modifikationen ein, um sich gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen
Kreativität, die das Nötige beibehält und
das gedanklich Mögliche ausweitet
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven