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Dilek Bozkaya und Alfred Garcia Sobreira-Majer | Interreligiöses Lernen am Buffet
same Essen im Vordergrund, sondern vielmehr das Teilen untereinander
und dies unter der Prämisse der Gleichheit, Gerechtigkeit und der Reinheit
des Essens. Der letzte Punkt bezieht sich auf die sogenannte Helal-Spei-
se. Im Alevitentum ist hierbei nicht die Art der Schächtung mit dem Wort
„Helal“ verbunden. Es geht vielmehr darum, ob die Zutaten dieser Speise
ehrlich erworben wurden oder nicht. Janina Karolewski erklärt dies in ihrer
Arbeit mit der Legende des großen alevitischen Mystikers und Dichters Pir
Sultan Abdal.2
„Als Hızır Paşa, der Gouverneur von Sivas, den Dichter Pir Sultan zum
Essen einlädt, lehnt dieser die Speisen ab. Hızır Paşa erkundigt sich er-
staunt nach dem Grund. Pir Sultan sagt, die Speisen seien ‚unrein‘, die
Tafel errichtet auf den Ungerechtigkeiten des PaÅŸa. Woher er dies wissen
wolle, fragt Hızır Paşa nun. Pir Sultan erwidert, dies wüssten gar sei-
ne beiden Hunde. Der erzürnte Hızır Paşa fordert Pir Sultan auf, seine
Hunde herbeizuholen und lässt ihnen zwei Speisen vorsetzen. Eine aus
denselben Zutaten, wie die für Pir Sultan, die andere aus ‚reinen‘ Zuta-
ten. Die Hunde kommen, riechen an den Speisen und fressen die ‚reine‘.
(Nacherzählt von Ahmet Doğanbaş, 2011)“ (Karolewski 2012, 236)
Alevit:innen vergleichen seit jeher unrecht Gewonnenes mit der Tafel des
Hızır Paşa und beziehen sich so auch indirekt auf die drei Signacula, welche
die Hauptregeln des Alevitentums darstellen, um die Harmonie innerhalb
der Gemeinschaft zu sichern:
„In unserem Weg muss die Person (‚kisi‘) seine [sic] Hände, seine [sic]
Zunge und seine [sic] Lende beherrschen. Diese drei Siegel (‚mühür‘)
bewahren die Person vor Bösem. Wenn ein Frommer (‚sofu‘) diese [drei
Triebe] nicht zügeln kann (‚gem vuramazsa‘), kann er kein Frommer
(‚sofu‘) werden. Weder kann die Gemeinschaft mit ihm noch er mit der
Gemeinschaft einverstanden sein (‚razı olmak‘).“ (Bozkurt 2006, 156–
157)
Diese drei Signacula gelten natürlich für alle Angehörigen des alevitischen
Glaubens. Hier sind weder das Geschlecht noch die religiöse Position, ob Ad-
ept oder Meister3, relevant. Dasselbe Gebot des reinen Essens wird auch in
der Lehre der „4 Tore und 40 Stufen“ (Güzelmansur 2012, 61) erklärt. Die-
ses Wertesystem und die ethisch-moralische Maxime, Hände, Lende und
Drei Signacula, um die Harmonie innerhalb
der Gemeinschaft zu sichern
2 Pir Sultan Abdal lebte im 15.
Jahrhundert und gehört zu den be-
deutendsten Dichtern des Aleviten-
tums. Der in der Legende erwähnte
Hızır Paşa war einst sein Jünger. Als
dieser jedoch nach Istanbul zog und
dort am Hofe des Sultans diente,
wurde er mit der Zeit zum PaÅŸa er-
nannt. Hızır Paşa regierte als Tyrann
und war für seine Ungerechtigkeiten
bekannt. Er war auch derjenige,
der Pir Sultan Abdal wegen seiner
Unbeugsamkeit und seines Wider-
stands erhängt hat (vgl. Schimmel
2014, 182–183).
3 Mit dem Meister werden religiö-
se Wegweiser, wie ein Dede oder
ein Pir, bezeichnet, welche direkte
Nachkommen des Propheten Mu-
hammed und Bewohner seines
Hauses („Ehl-i Beyt“, wörtlich: die
Leute des Hauses des Propheten)
sein müssen (vgl. Langer 2008, 70).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven