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Isabelle Jonveaux | Transfers des Fastens
Fasten in der klösterlichen Tradition
Fasten ist laut Adalbert de VogĂŒĂ© (1977) neben Keuschheit und Schlafent-
zug einer der drei Grundpfeiler der klösterlichen Askese. Es sei in der aske-
tischen Tradition sogar als erster Schritt zu betrachten (vgl. Régamey 1963,
58), nicht nur weil die ErnĂ€hrung das erste und nie erlöschende BedĂŒrfnis
des Menschen sei, sondern auch weil die KirchenvÀter der Meinung waren,
es sei der SchlĂŒssel zu weiteren Verzichten und asketischen Ăbungen.
âDa das Paar Völlerei-Unzucht am Ursprung der ĂŒbrigen Laster steht,
muĂ es als erstes getilgt werden, denn âviel leichter verdorrt die schaden-
bringende Breite und Höhe eines Baumes, wenn zuvor die Wurzeln, auf
die er sich stĂŒtzt, entblöĂt oder abgeschnitten sind.â Daher die asketische
Bedeutung des Fastens als Mittel gegen die Völlerei und zur Verhinde-
rung von Unzucht. An diesem Punkt muĂ die asketische Ăbung ansetzen,
denn dort beginnt die Kausalkette.â (Foucault 1989, 26)
In der Geschichte der WĂŒstenvĂ€ter fĂ€llt auf, dass das Fasten oft zum Symbol
fĂŒr Askese an sich wird. Die Beherrschung des Hungers, eines der grundle-
gendsten BedĂŒrfnisse des Körpers, erscheint als BestĂ€tigung der Vorherr-
schaft der Seele. âEine der Funktionen des Fastens ist es daher, die Vor-
herrschaft der Seele zu bekrÀftigen, indem es die Erhöhung des Blutdrucks
und ihre fatalen Folgen begrenzt.â (Assouly 2002, 140; Ăbersetzung: I. J.)5
Die Tradition des katholischen Klosterfastens zeigt zwei Ausformungen:
selektives Fasten und quantitatives Fasten. Selektives Fasten besteht in der
Definition von Nahrungsmitteln, die erlaubt oder nicht erlaubt sind. Das in
den spÀtantiken Klosterregeln von Pachomius (1982) und Benedikt (2011)
explizit vorhandene Fleischverbot ist ein Beispiel dafĂŒr. Benedikt schreibt:
âAuf Fleisch vierfĂŒĂiger Tiere sollen alle verzichten, auĂer die ganz schwa-
chen Kranken.â (39, 11) Hier fĂ€llt auf, dass dieser Verzicht nicht alle be-
trifft, sondern nur die gesunden Mönche, fĂŒr Kranke sind Ausnahmen ge-
dacht. Massimo Montanari erklĂ€rt, dass die Ablehnung von Fleisch âeine
umso rigorosere und zwanghaftere Wahl [war], da es der Nahrungswert
par excellence der Gesellschaft der MĂ€chtigen warâ (Montanari 1995, 41;
Ăbersetzung: I. J.)6. DemgegenĂŒber geht es beim quantitativen Fasten da-
rum, die Menge der aufgenommenen Nahrung zu reduzieren oder im Ex-
tremfall sogar darauf zu verzichten. Der Grund dafĂŒr ist, dass ein Mönch,
4 Im Original: âAu principe des
autres, le couple gourmandise-for-
nication, comme «un arbre géant
qui étend au loin son ombre», doit
ĂȘtre dĂ©racinĂ©. De lĂ lâimportance
ascétique du jeûne comme moyen de
vaincre la gourmandise et de couper
court Ă la fornication. LĂ est la base
de lâexercice ascĂ©tique, car lĂ est le
commencement de la chaĂźne causa-
le.â (Foucault 1994, 297)
5 Im Original: âUne des fonctions
du jeûne est donc de réaffirmer la
prĂ©dominance de lâĂąme en limitant
lâaugmentation de la tempĂ©rance du
sang et ses consĂ©quences funestes.â
6 Im Original: âun choix dâautant
plus rigoureux et obsessionnel, quâil
sâagissait de la valeur alimentaire
par excellence de la société des puis-
sants.â Die Beherrschung des Hungers als
BestÀtigung der Vorherrschaft der Seele
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven