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Isabelle Jonveaux | Transfers des Fastens
bedeutet nicht, dass alle Menschen, die ein solches Fasten befolgen, dies
auch aus spirituellen Gründen tun. Wie in den Facebook-Fastengruppen zu
sehen ist, machen es viele auch, um z. B. Gewicht zu verlieren, oder nur zu
therapeutischen körperlichen Zwecken, was aber laut Buchinger nicht das
einzige Ziel sein müsste. In meinen Forschungsarbeiten habe ich mich auf
Menschen konzentriert, die explizit auch ein spirituelles Ziel hatten. Wenn
es eine geistliche Erfahrung ist, was für eine Erfahrung ist es?
Hier fällt zuerst auf, dass die ursprüngliche Idee der Askese als Übung –
etymologisch von askeín: üben – kaum in Frage kommt. Viele sehen das
Fasten als eine ganzheitliche Reinigung für Körper, Geist und Seele, die es
erlaubt, näher zu sich zu kommen. Reinigung bedeutet nämlich für die Fas-
tenden nicht nur eine körperliche Reinigung, sondern auch eine spirituel-
le. Einer der Befragten sagt z. B., das Fasten sei „nicht nur eine Reinigung
des Körpers, sondern auch der Seele“, und später wiederholt er, dass das
Fasten eine „Reinigung auf allen Ebenen“ sei. Oder Anja, eine 24-jährige
Studentin:
„Ich habe es interessant gefunden, dass wirklich die Seele mit dem Kör-
per zusammenhängt. Also dass man wirklich, wenn man eigentlich den
Körper reinigt, dass die Seele dann auch mitmacht. Ja, einfach das, dass
das total eng zusammenhängt. Wenn der Körper entgiftet, entgiftet die
Seele auch irgendwie.“ (05.2016)
Wie ich in einem anderen Artikel gezeigt habe (vgl. Ebenbauer/Jonveaux
2018), kann dieses Bedürfnis nach Reinigung mit dem Verlust der Riten der
Reinigung in der katholischen Ordenswelt in Verbindung gebracht werden,
zumal die Beichte das Sakrament ist, das derzeit am meisten in der Krise
steckt.
Die Erfahrung des Fastens kann auch eine religiöse Erfahrung an sich sein,
in dem Sinne, dass sie einen religiösen oder „anderen“ Zustand vermit-
telt. Sie kann mit dem verglichen werden, was Hubert Knoblauch, Plessner
zitierend, ein „Außer-sich-Sein“ nennt, das noch keine Form der Ekstase
ist, sondern „die Fähigkeit der Selbstbeobachtung und der Selbstbehand-
lung“ (Knoblauch 2009, 57). Für Erika, eine Fastentrainerin, bedeutet das
Fasten, „ganz bei mir zu sein“. Oder laut einer anderen Befragten: „Eine
Neuorientierung und ein tief-in-mich-Eintauchen-können“ (Frau, 56).
Die erste Ebene ist also dieses „bei sich sein“, diese Bewegung von außen
Fasten als „Reinigung auf allen Ebenen“
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 4:2
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 4:2
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 214
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven