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20    Christian Benne
ihrer eigenen materiellen Hüllenhaftigkeit, aber auch in der ihr eigenen Zeichen-
haftigkeit. Der Materialitätsdiskurs entsteht dort, wo die Hülle des Zeichens selber
zum Zeichen wird, das aber nicht länger nur als Zeichen analysiert werden kann.
Die programmatischen Schriften des spekulativen Realismus bieten hierfür
schönstes Anschauungsmaterial. Bei seinen Protagonisten handelt es sich typi-
scherweise um abtrünnige French theorists, die in ihrem Furor eine dem von
ihnen als „discursivism“ verabscheuten Denken möglichst entgegengesetzte
Position besetzen wollen:
History became a history of discourses, how we talk about the world the norms and laws by
which societies are organized, and practices came to signify the discursive practices –
through the agency of the signifier, performance, narrative, and ideology – that form sub-
jectivities. Such a theory of society was, of course, convenient for humanities scholars who
wanted to believe that the things they work with – texts – make up the most fundamental
fabric of worlds and who wanted to believe that what they do and investigate is the most
important of all things. (Bryant 2014, 1)
Bryant, der sich explizit den Eifer des Konvertiten bescheinigt, geht von der Ein-
sicht aus, „that the signifier, meaning, belief, and so on are not the sole agencies
structuring social relations“ (Bryant 2014, 4–5). Das aber hatte auch keiner der
Diskursbegründer je behauptet. Die entsprechende Trotzreaktion, die bewusst
ihrer Sehnsucht nach „stuff“ und Realität Ausdruck verleiht, endet doch unge-
wollt wieder im metaphysischen Realismus, solange sie sich nicht dem Problem
der eigenen Beschreibung dieses „stuff“ stellt.9 Das ist überhaupt kein neues
Problem; und es ist erst recht keine abwegige Forderung schwärmerischer Kon-
tinentalphilosophen: Der Anspruch auf ‚Realismus‘ war schon immer ein Kampf-
begriff, der einen vermeintlichen Gegensatz voraussetzte, der nur relativ zu
jenem existiert.10
9  „In describing my position as unabashedly naïve, I only mean to say that the world is compo-
sed of physical things such as trees, rocks, planets, stars, wombats, and automobiles, that
thought and concepts only exist in brains, on paper, and in computer data banks, and that ideas
can only be transmitted through physical media such as fiber optic cables, smoke signals, oxy-
gen-rich atmospheres, and so on“ (Bryant 2014, 6). Bei Bryant ist nicht nur die ältere kritische
Ontologie seit Hartmann abwesend, sondern auch die neueren ontologisch ausgerichteten Me-
dientheorien etwa Friedrich Kittlers oder die Theorie der Affordanzen seit J.J. Gibson.
10 
Siehe schon Austin: „It should be quite clear, then, that there are no criteria to be laid down
in general for distinguishing the real from the not real. How this is to be done must depend on
what it is with respect to which the problem arises in particular cases“ (Austin 1962, 76). Meinem
Eindruck nach, aber das muss hier spekulative Vermutung bleiben, verbindet sich die unverhoh-
len naive Liebe zum „stuff“ und die damit einhergehende Linné’sche Sammel- und Kategorisie-
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik