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Christian Benne
phänomenologischen Perspektiven zusammenzudenken. Heideggers Fundamen-
talontologie überschattete sie in der Nachkriegszeit. Die jüngste Hinwendung
zum Realismus bietet die Chance, sie wiederzuentdecken und weiterzuentwickeln.
Ins Zentrum dieser Wiederentdeckung möchte ich den deutsch-österreichi-
schen Meinong-Schüler Richard Hönigswald (1875–1947) stellen, an dessen Ver-
treibung und Vergessen Heidegger selbst aktiven Anteil hatte und der von der
Fachphilosophie heute bis auf wenige Ausnahmen ignoriert wird.11
Bei dem naturwissenschaftlich, ontologisch und phänomenologisch geschul-
ten Kantianer Hönigswald wird der Gegenstand unabhängig vom Subjekt gedacht,
das als (historisch veränderliche) „Monas“ in der Erlebnisrelation zu ihm gleich-
wohl konstitutiv für ihn ist. Die Monas agiert zugleich unter der Bedingung der
Selbstpräsenz (ist sich selbst Gegenstand). „Gegenständlichkeit“ ist bei Hönigs-
wald Bedingung dafür, dass sich ein (individuelles oder kollektives) Ich über-
haupt auf einen Gegenstand richten kann. Sie enthält deshalb auch immer das
sich dem Zugriff Entziehende, das Entgegenstehende seiner Eigenlogik. Da zur
Gegenständlichkeit auch die Bedingungen seiner Möglichkeit sowie die Erlebnis-
relationen gehören, die in sich selbst historisch-kulturell veränderlich sind,
werden Praktiken der Identifizierung und Aneignung der verschiedenen Arten
von Gegenständen zu seinem Apriori. Gleichzeitig wird die Gegenständlichkeit
als ausgehend vom Gegenstand selbst gedacht, der, in heutiger Terminologie,
Affordanzen bietet, denen womöglich noch keine existierenden Praktiken ent-
sprechen, derer sich aber ältere Praktiken modifizierend annehmen können oder
aus denen ganz neue Praktiken entstehen mögen.
‚Gegenständlichkeit‘ enthält damit sowohl die Reflexion und Bestimmung
der Gegenstände, ausgehend von ihnen selbst, wie auch ihre Wirkungen. Dass
uns die Gegenstände in der Erlebnisrelation vermittelt entgegentreten (ohne
schlicht von uns konstruiert zu sein), stellt keineswegs ihre Eigenlogik infrage.
Vielmehr geht es in der Philosophie der Gegenständlichkeit ja gerade um die
Frage, inwieweit unser Erleben oder unsere Bestimmungen von ihnen beeinflusst
sind. Hinter dem Erleben verbirgt sich keine Neuauflage des Psychologismus,
sondern die Anerkennung der Präsenz als Vollzug des Erlebens, die ein Teil der
Beziehung zwischen Gegenstand und Monas ist.12
11  In der Heidegger-Nachfolge taucht Hönigswald trotz der Appropriation seines Zentralbegrif-
fes bis heute nicht auf (vgl. Figal 2006). Seit den 1990er-Jahren setzte eine vorsichtige Wiederent-
deckung Hönigswalds ein (vgl. z. B. Schmied-Kowarzik 1997), die freilich von der gleichzeitig
einsetzenden Renaissance der Philosophie Ernst Cassirers überflügelt wurde.
12 
Siehe insbesondere Hönigswald (1997). Aufgegriffen und für literaturtheoretische Fragestel-
lungen weiterentwickelt in Benne (2015).
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik