Page - 27 - in Logiken der Sammlung - Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
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Moritz BaĂźler
Die kulturpoetische Funktion des Archivs
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Es gibt eine erschütternde Episode in Wilhelm Raabes später Erzählung Die Akten
des Vogelsangs (1896), wo Velten Andres nach dem Tode seiner Mutter das
gesamte Inventar seines Elternhauses verheizt.1 Er zerstört damit die letzten
Zeugnisse einer vergangenen nachbarschaftlichen Idylle im Vogelsang, einer
Gegend, die inzwischen von Fabriken und Vergnügungsetablissements geprägt
und zur Unkenntlichkeit modernisiert ist. Veltens Schulfreund Krumhardt, den
gutbürgerlichen Ich-Erzähler, ergreift über diesem Autodafé eine ihm selbst
unheim
liche Begeisterung:
Worin lag nun der Zauber, der mich [...] jeden Tag nach der alten Heimstätte trug, die jetzt
zu einer Stätte der Vernichtung geworden war? [...] Wohl selten ist je einem Menschen die
Gelegenheit geboten worden, seine „besten Jahre“ in die unruhvolle Gegenwart so zurück-
zurufen wie mir in Velten Andres’ Krematorium. Wie wir im Vogelsang in der Nachbarschaft
[...] gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal im reichsten MaĂźe und konnte meine
Lebensakten in wünschenswertester Weise dadurch vervollständigen. Der Wanderer auf der
wankenden Erde [= Velten Andres] schob aus seinem Hausrat kaum ein StĂĽck in den Ofen
oder auch auf den KĂĽchenherd, an dem nicht auch fĂĽr mich eine Erinnerung hing und mit
ihm in Flammen aufging und zu Asche wurde. (Raabe 1988, 166)
Der Ziegenhainer, die Zerevismütze, das alte Schaukelpferd – alle werden sie
noch einmal Anlass, die mit ihnen einst verbundenen Diskurse zu erinnern und
aufzuschreiben, ad acta vitae zu legen, die dann jenes Buch ausmachen, das den
Titel Die Akten des Vogelsangs trägt. Krumhardt selbst, sein fiktiver Verfasser, ist
da übrigens längst vom Vogelsang weggezogen – in der Erzählgegenwart ist er
wohnhaft in der ArchivstraĂźe!
Mit Archiven hat man es hier in zweierlei unterschiedlicher Form zu tun: zum
einen mit dem Elternhaus voller Objekte aus vergangenen Zeiten, zum anderen
mit den schriftlichen Akten, in denen ein Zeitzeuge die „Nachbarschaft“, d. h. die
Kontiguitätszusammenhänge notiert, in denen diese Objekte einst standen – in
jenen Zeiten, da sie noch Bestandteile praktischen Lebens und nicht bloĂź Sam-
1  Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version meines Aufsatzes Was nicht ins Archiv kommt. Zur
Analysierbarkeit kultureller Selektion (vgl. BaĂźler 2007). Die zugrundeliegende Archivtheorie
habe ich ausfĂĽhrlich entwickelt in Die kulturpoetische Funktion und das Archiv (vgl. BaĂźler 2005).
Open Access. © 2020 Moritz Baßler, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert
unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110696479-003
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik