Page - 28 - in Logiken der Sammlung - Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
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28â â Moritz BaĂler
melstĂŒcke im âHerzensmuseumâ der alten Frau Andres waren. Schon dort
konnten sie ja nur deshalb ein Refugium finden, weil jene ZusammenhÀnge eben
im Herzen und im Bewusstsein seiner Bewohnerin gespeichert geblieben waren.
Mit deren Ableben aber wÀren sie derselben erinnerungslosen Zerstörung qua
Modernisierung anheimgefallen wie der ĂŒbrige Vogelsang, wenn sich nicht
Archivar Krumhardt eingefunden hÀtte, um sie in einem anderen Medium, dem
des Textes, aufzuzeichnen und diesmal ausdrĂŒcklich fĂŒr die Nachwelt abzuspei-
chern.
Allerdings wÀre dieser Akt der Archivierung wohl niemals erfolgt, wenn
Velten Andres nach seiner Heimkehr nicht eben jenes grenzpathologische Zerstö-
rungswerk in Gang gesetzt hĂ€tte, das die BĂŒrger des StĂ€dtchens zugleich verstört
und fasziniert. Es ist Krumhardts braver Ehefrau vorbehalten, den impliziten
Horror dessen zu formulieren, was hier vorgeht: âich habeâ, jammert sie,
doch noch letzte Nacht getrĂ€umt, auch du habest mich mit unserem Jungen â ich meine
unsere letzte Photographie â verbrannt wie er die Bilder seiner Eltern und seiner als ganz
kleines Kind verstorbenen Schwester! O bitte, da nimm uns, Ferdi und mich, doch lieber
jetzt gleich mit und schieb uns in euren Ofen in deinem Vogelsang! (Raabe 1988, 166)
Ihr GefĂŒhl trĂŒgt nicht: Es ist letztlich der MerkwĂŒrdigkeit Veltens, eines nach bĂŒr-
gerlichem MaĂstab gescheiterten Charakters zwischen Genie und Freak (Lord
Byron und Affenmensch), zu verdanken, dass der idyllische Alltag im Vogelsang
in Form von Literatur der Nachwelt ĂŒberliefert wird, wĂ€hrend die eigene leben-
dige Gegenwart der Familie Krumhardt frei von allem AuĂergewöhnlichen ist und
daher â trotz bĂŒrgerlicher Routinearchivierung im Medium der Fotografie â aller
Voraussicht nach klanglos zum Orkus hinabgehen wird. Raabes leicht marottifi-
zierte Prosa substituiert dabei den lebendigen Zusammenhang von Mutter und
Kind durch seine Aufzeichnung und spitzt dadurch bestimmte Charakteristika
des Archivierungsprozesses zu bis zur UnertrÀglichkeit. Wenn man Fotos ver-
brennt, dann kann man eigentlich auch gleich Menschen verbrennen â so radikal
steht es bei Raabe. Und in der Tat: Letztlich teilen Fotos ohne diskursives Umfeld
das Schicksal der auf ihnen Abgebildeten. Auch zu vielen der fotografierten Per-
sonen aus den Alben, die ich aus meinem Elternhaus aufbewahrt habe, werde ich
kaum je mehr die Namen, geschweige denn die AnlÀsse und Schicksale erfahren.
Allenfalls die Textualisierung, die Aufnahme in die Akten, die Verwandlung in
Literatur â so legt Raabes ErzĂ€hlung nahe â vermag diesen Prozess der Isolie-
rung, des Stummwerdens und letztlich der Zerstörung der Dinge des Lebens auf-
zuhalten.
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik