Page - 58 - in Logiken der Sammlung - Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
Image of the Page - 58 -
Text of the Page - 58 -
58â â Li Gerhalter
Ein groĂ angelegtes Projekt war die (heute kaum noch bekannte) Fernsehreihe
Mein Tagebuch des Filmemachers Heinrich Breloer. Der NDR-Redakteur hatte
Ende der 1970er-Jahre damit begonnen, diaristische Aufzeichnungen zu sammeln,
die dann im Fernsehen vorgestellt werden sollten. Der RĂŒcklauf war enorm und
so konnte Heinrich Breloer schlieĂlich aus âĂŒber 1000 privaten TagebĂŒchern [âŠ]
Geschichten heraus[suchen], die er mit Interviews, alten Fotos und Archivmate-
rial zu [einem] sehr persönlichen, bewegenden Geschichtsunterricht adaptierteâ,
wie es in der Online-Datenbank fernsehserien.de formuliert ist.10 Die zehnteilige
Reihe wurde ab 1980 in den regionalen Programmen der ARD ausgestrahlt. 1981
wurde sie mit dem âAdolf-Grimme-Preisâ ausgezeichnet. 1984 erschien eine kor-
respondierende Buchpublikation, die 1999 in gekĂŒrzter Form unter dem Titel
Geheime Welten noch einmal aufgelegt wurde. Auch die Fernsehreihe wurde wie-
derholt (vgl. Lessau 2015, 354).
Einen Àhnlich populÀren Zugang wÀhlte der Schriftsteller Walter Kempowski
bei der Veröffentlichung von QuellenauszĂŒgen in seiner vierbĂ€ndigen Buchreihe
Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Seine Zusammenstellungen folgten keinen edi-
tionswissenschaftlichen MaĂstĂ€ben, was zu entsprechend kontroversiellen wis-
senschaftlichen Diskussionen fĂŒhrte (vgl. u. a. Willms 1993). WĂ€hrend Heinrich
Breloer die âĂŒber 1000 privaten TagebĂŒcherâ nach Abschluss seines Publikati-
onsvorhabens nicht beisammen hielt, hat Walter Kempowski die von ihm gesam-
melten persönlichen Aufzeichnungen spÀter an das Archiv der Akademie der
KĂŒnste in Berlin ĂŒberantwortet, wo sie seit 2005 verwaltet werden (vgl. Lessau
2015, 359) und fĂŒr die Nachnutzung zur VerfĂŒgung stehen. Beide Projekte waren
jedenfalls höchst öffentlichkeitswirksam und haben im deutschsprachigen Raum
âĂŒber die geschichtsinteressierten Gruppen hinaus in die Gesellschaft hineinâ
(Lessau 2015, 353) sicherlich zur Popularisierung der EinschÀtzung beigetragen,
Selbstzeugnisse können wichtige historische Quellen sein. Und das obwohl â oder
gerade weil? â die zwei Formate nicht wissenschaftlich ausgerichtet gewesen sind.
Ein ganz anders gelagerter Anlass zum Sammeln von Selbstzeugnissen
können politische bzw. historische JubilÀen sein. Das trifft in gewisser Weise ja
auch auf die erste Initiative zur Sammlung FrauennachlÀsse zu. Konkret in einem
solchen Kontext ist am Wiener Stadt- und Landesarchiv bereits 1956 die Samm-
lung âKommission Wien 1945â gestartet worden, die hier unter dem 1978 geĂ€nder-
ten Namen âWiener Historische Kommissionâ zugĂ€nglich ist.
Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen (1998) sowie die Feldpost-
sammlung im Kommunikationsmuseum Berlin (2000) wurden zum Ende des
10â imfernsehen GmbH & Co. KG: fernsehserien.de: Mein Tagebuch, D 1980, online verfĂŒgbar
unter: www.fernsehserien.de/mein-tagebuch.
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik