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Selbstzeugnisse sammeln
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fragte eine von ihnen nach. Eine andere schrieb: „Ich würde diese ‚Zeitzeugenʻ
mit der Post an Sie schicken. Bitte lassen Sie mich bald Ihr Interesse wissen.“ Ein
Dritter brachte auf den Punkt, was wohl oft der Grund für die Entscheidung sein
dürfte, sich von papierenen Schätzen trennen: „Es tut mir weh, diese Dinge weg-
zuwerfen, aber wenn ich sie aufhebe, weiß ich genau, dass ich nie Zeit finden
werde, sie zu lesen.“ Eine Vierte sah wiederum erst durch die Anerkennung von
außen einen Sinn in ihren eigenen Aufzeichnungen: „Es ist auch für mich eine
gewisse Erleichterung, daß meine Tagebücher nicht völlig umsonst dh. überflüs-
sig waren.“ Eine Fünfte machte schließlich klar, auch auf Ergebnisse zu warten:
„Schade, dass der Stoff noch nicht beforscht wird!“ (Gerhalter 2017, 354–356).
Nach der grundsätzlichen Entscheidung, etwas an eine (bestimmte) Samm-
lungseinrichtung zu übergeben, ist als Nächstes die Entscheidung zu treffen, was
übergeben werden soll. Auch ein noch so umfangreicher Nach- oder Vorlass setzt
eine gewisse Auswahl voraus. Alles, was ein Mensch jemals geschrieben oder
fotografiert hat, aufzuheben, wäre wohl kaum möglich (vgl. dazu u. a. Saurer und
Gerhalter 2012, 161–166). Zum Großteil handelt es sich demgemäß um eine konkret
gestaltete Zusammenstellung wie etwa einen bestimmten Briefwechsel (bevor-
zugt Feldpost- oder Paarkorrespondenzen), eine Sammlung von Haushaltsbü-
chern oder Reiseberichten – oder auch nur um ein einziges Tagebuch. Durch
diese Auswahl bestimmen die NachlassgeberInnen aktiv mit, welche Art von
Informationen überhaupt archivalisch dokumentiert (und in weiterer Folge wis-
senschaftlich ausgewertet) werden können. Entsprechend schlage ich vor, die
Position der ÜbergeberInnen als die von Citizen Scientists zu bezeichnen – auch
wenn sie sich dessen womöglich gar nicht gewahr sind.
Die bunten Zusammensetzungen der Bestände historisch ausgerichteter
Sammlungen für Selbstzeugnisse
Die Sammlungsbetreuerinnen oder Archivare verfügen ihrerseits über fachliches
Wissen und genrespezifische Erfahrung. Die Entscheidung, welche Quellen über-
haupt aufgenommen werden, kann dabei unterschiedlichen Strategien folgen,
die zwischen einer klaren Auswahl und einem völlig offenen Zugang changieren:
So haben das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen oder die Feldpost-
sammlung in Berlin gewisse Einschränkungen betreffend der Genres, die sie auf-
nehmen, was auch bereits in ihren Namen angedeutet ist. Zwar werden diese
jeweils nicht restriktiv gehandhabt und so hat das Deutsche Tagebucharchiv zum
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik