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Selbstzeugnisse sammelnâ â
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von Aufzeichnungen auch von Menschen, die gegebenenfalls eine formal höhere
Bildung hatten, die damit subtil ĂŒberformt worden sein dĂŒrften. Empirische
Belege fĂŒr diese EinschĂ€tzung wĂ€ren zu erbringen.
Jene BestĂ€nde, die Selbstzeugnisse wie TagebĂŒcher, Korrespondenzen oder
Haushaltsaufzeichnungen enthalten (also Texte, die zu einem frĂŒheren Zeitpunkt
und dabei zu einem anderen Zweck angefertigt worden sind), können ihrerseits
eine sehr breite soziale Streuung aufweisen. So sind unter den SchreiberInnen
der Sammlung FrauennachlÀsse sowohl DienstmÀdchen dokumentiert als etwa
auch die erste Frau, die von Ăsterreich zum âauĂerordentlichen und bevollmĂ€ch-
tigten Botschafterâ ernannt wurde. Dabei wĂ€re weiters zwischen den Personen zu
differenzieren, die die Dokumente verfasst haben â und jenen, die sie an die
Sammlungseinrichtungen abgeben. Letzteren ist oft eine gewisse Wissenschafts-
oder zumindest BildungsaffinitÀt zuzuschreiben.
Vor diesem â und dem Hintergrund der inzwischen seit Jahrzehnten etablier-
ten Sozialgeschichte erscheint es verwunderlich, dass sich (zumindest in populÀ-
ren Formaten) ĂŒberkommene Benennungen der historischen AkteurInnen hart-
nĂ€ckig zu halten scheinen. Bezeichnungen wie âeinfache Leuteâ, âunbekannte
Personenâ, ânamenlose ZeitgenossInnenâ oder âkleiner Mannâ (hier allesamt nicht
direkt zitiert) sind immer noch zu finden. Insbesondere wenn es sich um Frauen
handelt, ist zudem eine BeschrĂ€nkung auf den Vornamen nicht unĂŒblich. Damit
wird die eigentlich intendierte Anerkennung paradox konterkariert. Eine mögli-
che ErklĂ€rung dafĂŒr könnte sein, dass die Hegemonie der Aufmerksamkeit wei-
terhin auf Personen liegt, die berufsmĂ€Ăig bzw. kĂŒnstlerisch schreibend tĂ€tig
waren. Es herrscht jedenfalls oft eine gewisse Ratlosigkeit in der Benennung aller
anderen SchreiberInnen. Als eine Möglichkeit verwende ich etwa die Formulie-
rung âPersonen, die in keiner prominenten Ăffentlichkeit standenâ. Andere
Lösungen finden sich sicherlich in einschlĂ€gigen Forschungsarbeiten â oder
werden noch gefunden.
Im Gegensatz zur Frage der sozialen Streuung lÀsst sich die geschlechterspe-
zifische ReprÀsentanz der SchreiberInnen auto/biografischer Aufzeichnungen in
den SammlungsbestĂ€nden verhĂ€ltnismĂ€Ăig leicht fassen und auch mit konkreten
Zahlen belegen. Das weitgehende Fehlen von Frauen in der Geschichtsschrei-
bung war der Motor fĂŒr die frĂŒhe Frauengeschichte. Diese wurde sowohl inner-
als auch auĂeruniversitĂ€r erarbeitet, im Kontext der sogenannten Zweiten Frau-
enbewegung wurden auch eigene (Bewegungs-)Archive gegrĂŒndet. Die beiden
Netzwerke fĂŒr den deutschsprachigen Raum sind frida. Verein zur Förderung und
Vernetzung frauenspezifischer Informations- und Dokumentationseinrichtungen in
Ăsterreich (1992) sowie ida. Dachverband der deutschsprachigen Frauen- und Les-
benarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen (1994).
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik