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Der eine kommt ins Archiv, der andere kommt nicht ins Archivâ â
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Die erwÀhnte literatur- und theaterwissenschaftliche Forschung widmet sich
dem Kabarett nur wenig, was vermutlich mit der grundsÀtzlichen Textlosigkeit
zusammenhĂ€ngt.5 Wie schwer die Bearbeitung einer AuffĂŒhrung ohne Textgrund-
lage sein kann, lĂ€sst sich z. B. anhand Elfriede Jelineks StĂŒck Ulrike Maria Stuart
und dessen Inszenierung durch Nicolas Stemann bzw. des von Ortrud Gutjahr
herausgegebenen Bandes dazu einigermaĂen nachvollziehen (vgl. Gutjahr 2007).
Werk- und Autorbegriffe sind schnell als Hilfskonstruktion wieder zur Hand, wo
eigentlich komplexere ZusammenhĂ€nge zwischen AuffĂŒhrungssituation, Inter-
pretation und auch Interaktion interessant wÀren.6 Im Kabarettkontext wird
deshalb oft auf bestimmte, einfacher fassbare Formen fokussiert, die stark am
Inhalt interessiert sind und die AuffĂŒhrungspraxis auĂen vor lassen. Zumeist
sind dies die politische und auch âliterarischeâ Dimension, mit Bertolt Brecht,
Kurt Tucholsky und Karl Valentin als oft implizite Bezugspunkte (vgl. Bauschin-
ger 2000). Auch Arne Kapitzas Vorschlag, wie z. B. mit den groĂen ArchivbestĂ€n-
den des deutschen Kabarettarchivs und auch YouTube-Inhalten umgegangen
werden soll, zeigt wieder in eine Ă€hnliche Richtung: FĂŒr eine wissenschaftliche
Analyse sollen die Texte ordentlich transkribiert und eine metrische Analyse bei
Liedern durchgefĂŒhrt werden (vgl. Kapitza 2017, 215). Praktische Umsetzbarkeit
wird hier offensichtlich hintangestellt.
Dass die Aufzeichnung eines Kabarettabends, in welcher Form auch immer,
eine zusÀtzliche Inszenierung bedeutet und auch ein dementsprechendes, ange-
passtes Skript verwendet, wird ob der Nichtbehandlung unsichtbar. Die aufge-
zeichneten Auftritte haben oft wenig mit der alltÀglichen Tournee-Routine-Praxis
und den KleinkunstbĂŒhnen zu tun. So ist z. B. Josef Haders Programm Privat in
der Burgarena Finkenstein aufgezeichnet geworden, einer FreiluftbĂŒhne, die ent-
fernt an antike TheaterbĂŒhnen erinnert. Die Ausgangssituation der AuffĂŒhrung,
dass ein TextgerĂŒst vorhanden ist, welches je nach Ort, Publikumszusammenset-
zung oder zeitlichem Rahmen adaptiert wird, ist durch die Vor- und NachlÀsse im
Kabarettarchiv in einigen FĂ€llen sehr gut rekonstruierbar. So finden sich z. B. im
Nachlass von Peter Orthofer, der u. a. fĂŒr Alfons Haider und Hans Peter Heinzl in
den 1980er- und 1990er-Jahren Programme verfasst hat, unterschiedliche Fas-
sungen von ein und demselben Sketch, jeweils mit neuen und austauschbaren
Ăberleitungen, sodass er in mehrere Programme aufgenommen werden konnte.
Dies ist der Regelfall. Andere Momente bei Auftritten, die eine â spontane oder
5â Eine umfangreiche Bibliografie zum österreichischen Kabarett und dessen Geschichte findet
sich in den erwĂ€hnten Werken von Iris Fink und Hans Veigl (vgl. Veigl 2013, 498â505; Fink und
Veigl 2016, 447â459).
6â Ich danke Thomas Kater in diesem Zusammenhang fĂŒr wertvolle Anregungen.
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik