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Die Konservierung der Töne
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3 Dialektaufnahmen der Nachkriegszeit
Wie bereits angedeutet, hat die Wiener dialektologische Schule unter Eberhard
Kranzmayer neuere Entwicklungen wie den Strukturalismus, die Psycho- und
Soziolinguistik oder die generative Grammatik weitgehend ignoriert, weshalb es
in der Wiener germanistischen Sprachwissenschaft kaum zu nennenswerten
methodischen oder epistemologischen Fortschritten kam. Mit großer Intensität
wurde jedoch die Erforschung mittelalterlicher Sprachinseln und konservativer
Binnendialekte betrieben.
Mit der Einführung des Magnettonbands ab den 1950er-Jahren war es
nunmehr bedeutend leichter, Feldforschungen mit Tonaufzeichnung durchzu-
führen. Zwischen 1951 und 1983 entstand so eine flächendeckende Audio-Doku-
mentation der österreichischen Dialekte, schon bis Ende 1952 wurden allein in
Oberösterreich an die 70 Aufnahmen erbracht. Federführend bei diesen soge-
nannten Kundfahrten waren neben Kranzmayer dessen ehemalige Schülerin
Maria Hornung, einige Mitarbeiter der Wiener Wörterbuchkanzlei (u. a. Albrecht
Etz und Franz Roitinger) und ein Vertreter des Phonogrammarchivs (meist in
Person von Walter Ruth). Themen der aufgenommenen Gespräche waren bei-
spielsweise Haushalt und Landwirtschaft, das Almwesen, Feste und Unterhal-
tung, Brauchtum und Aberglauben (z. B. die Wilde Jagd), Sagen und Wildererge-
schichten. Eines der Hauptmotive dieser regen Aufnahmetätigkeit war die
akustische Dokumentation der besonders altertümlichen südbairischen Dialekte
des alpinen Raums, die Kranzmayer in seiner romantischen sprachhistorischen
Auffassung idealerweise in den Tiroler Hochtälern und in den im Mittelalter
gegründeten zimbrischen Sprachinseln der Sieben und Dreizehn Gemeinden auf
der Hochebene nördlich von Verona und Vicenza verkörpert sah. Im Bereich des
tendenziell moderneren mittelbairischen Raums (zwischen Lech und Neusiedler-
see mit den beiden Zentren München und Wien) waren für die Wiener Dialektolo-
gie vor allem die konservativen Mundarten Oberösterreichs von Interesse, insbe-
sondere im Bereich der von Kranzmayer so genannten „oberösterreichischen
Beharrsamkeitsbrücke“ (Kranzmayer 1956, 6). Im Herbst 2018 wurde dieses
Korpus der „Tonaufnahmen österreichischer Dialekte 1951–1983“ in das nationale
„Memory of the World“-Register der UNESCO aufgenommen. In Kooperation mit
der Forschungsabteilung „Variation und Wandel des Deutschen in Österreich“
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sollen sie aufbereitet,
erschlossen und künftig über eine Online-Plattform allgemein verfügbar gemacht
werden (vgl. www.oeaw.ac.at/phonogrammarchiv/unesco).
Logiken der Sammlung
Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Title
- Logiken der Sammlung
- Subtitle
- Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik
- Authors
- Petra-Maria Dallinger
- Georg Hofer
- Publisher
- De Gruyter Open Ltd
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069647-9
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Archiv, Nachlassinventar
- Categories
- Weiteres Belletristik