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20 | Gerhard Botz, Alexander Prenninger, Regina Fritz, Heinrich Berger und Melanie Dejnega
Opfer in die Analyse einzubeziehen, verwendet jedoch selbst keine Erinnerungsbe-
richte, die nach 1945 entstanden sind.28
Dabei ist die Bedeutung mündlicher Erzählungen von Zeitzeugen jenseits der De-
batte um Fakt und Fiktion schon seit den 1980er Jahren durch die damals entstehende
Oral History hervorgehoben worden, wenn auch zunächst eher im Bereich der Wider-
stands- und Arbeiterbewegungsgeschichte.29 In der Geschichtsschreibung zu den Kon-
zentrationslagern waren es vor allem die frauengeschichtlichen Zugänge zur KZ-Ge-
schichte, insbesondere des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, die zunehmend
über Einzelschicksalsdarstellungen hinaus30 in einem großen Umfang Oral History
und deren Methoden in ihre historische Darstellung einbezogen.31
Worin liegt der besondere Quellenwert von Interviews im Vergleich zu schriftlichen Er-
innerungsberichten ? Die frühe Oral-History-Bewegung in Europa und in den USA wollte
vor allem die bis dahin nicht erforschten Bereiche des Alltags der nichthegemonialen Klas-
sen untersuchen, sozusagen den «Unterdrückten eine Stimme geben», deren Geschichte bis
dahin nicht geschrieben worden war.32 Tatsächlich ist es den großen Oral-History-Projek-
ten gelungen, Überlebende der Konzentrationslager und des Holocaust zu interviewen, die
bis dahin noch nie über ihre Erfahrungen gesprochen hatten und entweder ihre Erinne-
rungen nie zu Papier gebracht hätten bzw. erst durch ein Interview dazu angeregt wurden.33
28 Saul Friedländer : Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, München 2006,
S. 23. Auch das Editionsprojekt Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nati-
onalsozialistische Deutschland 1933–1945 (VEJ) schließt sämtliche Ego-Dokumente aus, die nach dem
8. Mai 1945 entstanden sind.
29 Vgl. Gerhard Botz : Oral History – Wert, Probleme, Möglichkeiten der Mündlichen Geschichte, in : ders.
et al. (Hg.), Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und The-
menbereiche der Geschichte «geschichtsloser» Sozialgruppen, Wien/Köln 1984, S. 23–37. Zu dem im
deutschen Sprachraum richtungsweisenden Projekt von Lutz Niethammer «Lebensgeschichte und So-
zialstruktur im Ruhrgebiet 1930–1960» siehe Ulrike Jureit : Die Entdeckung des Zeitzeugen. Faschis-
mus- und Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, in : Jürgen Danyel et al. (Hg.), 50 Klassiker der Zeitge-
schichte, Göttingen 2007, S. 174–177.
30 Vgl. beispielsweise Margareta Glas-Larsson : Ich will reden. Tragik und Banalität des Überlebens in The-
resienstadt und Auschwitz, hg. v. Gerhard Botz unter Mitarb. v. Anton Pleimer u. Harald Wildfellner.
Wien et al. 1981.
31 Vgl. Amesberger/Halbmayr, Vom Leben und Überleben, sowie Linde Apel : Jüdische Frauen im Konzen-
trationslager Ravensbrück, Berlin 2003 ; Simone Erpel : Dokumentiertes Trauma. Zeugenaussagen pol-
nischer Überlebender des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück in einer schwedischen Befragung
1945/46, in : Fank/Hördler (Hg.), Der Nationalsozialismus, S. 121–134 ; Sabine Kittel : «Places for the
Displaced». Biographische Bewältigungsmuster von weiblichen jüdischen Konzentrationslager-Über-
lebenden in den USA, Hildesheim et al. 2006 (Haskala – Wissenschaftliche Abhandlungen, 32) ; Insa
Eschebach et al. (Hg.) : Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozia-
listischen Genozids, Frankfurt a. M./New York 2002 ; Loretta Walz : «Und dann kommst du dahin an
einem schönen Sommertag». Die Frauen von Ravensbrück, München 2005.
32 Annette Leo/Franka Maubach (Hg.) : Den Unterdrückten eine Stimme geben. Die International Oral
History Association zwischen politischer Bewegung und wissenschaftlichem Netzwerk, Göttingen 2013.
33 Im Gefolge des MSDP hat eine Reihe von interviewten Überlebenden ihre Memoiren veröffentlicht, z. B.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen