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52 | Gerhard Botz
durch Zufall und kameradschaftliche Hilfe dem Erstickungstod in der Gaskammer
entkommen ist. Er war mit dem Aktenverweis, dass er (in der Gaskammer) zu ermor-
den sei, noch am 14. März 1945 nach Mauthausen gebracht worden, konnte jedoch
vom kommunistischen Lagerwiderstand aus der Gruppe der zum Tod Bestimmten he-
rausgeholt werden. Er erhielt von Kameraden in der Lagerschreibstube die Häftlings-
nummer eines Verstorbenen und überlebte schließlich mit einer falschen Identität.18
Als er noch ein halbes Jahrhundert später in eben dieser ehemaligen Gaskammer stand,
wurde für viele seiner Zuhörer und Zuhörerinnen unmittelbar nachvollziehbar, was
der massenhafte Tod für jeden Einzelnen bedeutete oder hätte bedeuten können.
5. Diese (noch) kommunikative Erinnerung und die vor allem seit den 1970er
Jahren staatlich geförderte Geschichtspolitik erwiesen sich als kostbare Medaille mit
zwei Seiten. Zum einen verstärkten sie den Stellenwert von baulichen Überresten und
Denkmälern, die sich aus der NS-Zeit ergaben. Es entstand auch in Österreich, zu-
nächst an die Bundesrepublik Deutschland angelehnt, eine lebendige Gedenkstätten-
arbeit, fĂĽr die symbolische Orte wie Mauthausen und dessen ehemalige AuĂźenlager
immer wichtiger und als öffentliche Aufgabe anerkannt wurden.19 Den historischen
(«Original»-)Gebäuden etwa der Gedenkstätte Mauthausen oder anderer Verfolgungs-
stätten schrieb man in manchmal strikter Ablehnung der («traditionellen») professio-
nellen Geschichtswissenschaft schon den Charakter des «Authentischen» an sich zu.20
Darin allein sahen manche kulturalistisch geprägten Historiker und Historikerin-
nen und politische Bildner und Bildnerinnen sowohl die einzigartige «Aura» als auch
die unbezweifelbare Überzeugungskraft der historischen «Fakten», gerade wenn es um
nationalsozialistische Lager wie Mauthausen oder Auschwitz ging. Man ĂĽbersah da-
bei allzu leicht, dass der französische Historiker und Widerstandskämpfer Marc Bloch
eine grundlegende Anleitung zum geschichtswissenschaftlichen Arbeiten mit mate-
riellen «Überresten» und jeder Art von Quellen in einem Satz gegeben hatte : «Denn
sogar die eindeutigsten und willfährigsten Texte oder archäologischen Zeugnisse spre-
chen nur zu dem, der sie zu befragen versteht.»21
Objekte, die von «Vergangenem» übrig geblieben sind,22 bleiben an und für sich
«stumm», auch wenn in ihrer materiellen Struktur Spuren des «Vergangenen» einge-
schrieben und festgehalten sind. Doch erst, wenn diese gegenwärtigen Spuren hin-
18 Thomas Geier : Widerstand im Konzentrationslager Mauthausen und in den AuĂźenlagern, Diplomarb.
Univ. Wien 2012, S. 50.
19 So auch : Vorschläge der Sachverständigenkommission zur Gedenkstätte Konzentrationslager Mauthau-
sen, in : zeitgeschichte 22.9/10 (1995), S. 357–371.
20 Siehe eine Auseinandersetzung damit bei : Gerhard Botz et al.: Mauthausen als «Erinnerungsort».
21 Marc Bloch : Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, hg. v. Peter Schöttler,
Stuttgart 2002 [posthum 1949], S. 73.
22 Hierzu gehören auch bildhafte Zeugnisse und Tondokumente, Videoaufzeichnungen und andere Arten
von Quellen. Auch unsere Interviewaufzeichnungen werden – in einem anderen Forschungskontext als
von uns vorgestellt und vorgegeben – demnächst schon dazu gehören.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen