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54 | Gerhard Botz
6. Paradoxerweise ist in vielen KZ-Gedenkstätten, so auch in Mauthausen, lange
Zeit eine substanzielle Sicherung dieses Erinnerungsschatzes in Form systematischer
und groĂźer Oral-History-Projekte nicht erfolgt.26 Das mag eine Folge der einander
oft feindlich gegenĂĽberstehenden Sichtweisen von Oral Historians und am Einzelhaf-
ten interessierten Historikern und Historikerinnen einerseits und quantifizierenden
und strukturgeschichtlich orientierten Forschern und Forscherinnen andererseits
sein. Es mag aber auch sein, dass Geschichte und Erinnerungspolitik zur nationalso-
zialistischen Gewaltherrschaft sich in Österreich erst gegen viele Widerstände durch-
setzen konnten und wenig Spielraum zur Erprobung neuer methodischer Ansätze
hatten ; sie mussten gegen die Leugnung und das Beiseiteschieben der hard facts des
Nationalsozia lismus vor allem zu einer vereinfachten Dokumentierungsmethode Zu-
flucht nehmen.
Von diesen beiden gegensätzlichen Zugängen zur Oral History scheint in roma-
nischsprachigen Ländern (vor allem in Frankreich und Spanien) die letztgenannte,
subjektivierend erzählerische Orientierung, in germanischsprachigen Ländern (vor
allem Deutschland und die Niederlande) die erstgenannte Strömung stärker Widerhall
gefunden zu haben. Dagegen waren – generalisierend gesagt – unter Oral Historians
in angelsächsischen Ländern deskriptive und dokumentaristische Arbeitsweisen stark
vertreten, was sich auch in den Tagungen und internen Konflikten der International
Oral History Association (IOHA) seit den 1990er Jahren manifestierte. Das MSDP hat
in seinem Entstehen von der österreichischen methodologischen Zwischenstellung
profitieren können, wie im Weiteren dieses Bandes gezeigt werden kann.27
7. Noch entscheidender wurde, rĂĽckblickend betrachtet, dass von den USA ausge-
hend ein grundlegender Wandel der erinnerungskulturellen Orientierung stattfand,
mit dem in den 1990er Jahren die Erinnerung an den Holocaust in das Zentrum der
geschichtspolitischen Aktivitäten trat. Verstärkend und auf Europa insgesamt und da-
mit auch auf Ă–sterreich ausstrahlend wirkte dabei das von Steven Spielberg 1993 initi-
ierte und getragene Mega-Projekt der Survivors Visual History of the Holocaust, das mit
den Einnahmen aus dem vorangegangenen Spielfilm «Schindlers Liste» über 52.000
Interviews mit Holocaust-Ăśberlebenden finanzieren konnte.
26 Siehe dagegen die Ergebnisse eines Oral-History-Projekts der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in : Ulrike
Jureit/Karin Orth (Hg.) : Überlebensgeschichten. Gespräche mit Überlebenden des KZ-Neuengamme,
Hamburg 1994. Für Mauthausen jedoch z. T. auch in : Jacob Goldstein et al.: Individuelles und kollek-
tives Verhalten in Nazi-Konzentrationslagern. Soziologische und psychologische Studien zu Berichten
ungarisch-jüdischer Überlebender, Frankfurt a. M. 1991 (Studien zur historischen Sozialwissenschaft,
16), und Elmer G. Luchterhand : Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den
Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager, hg. v. Andreas Kranebitter u. Chris-
tian Fleck, Wien 2018 [1952] (Mauthausen-Studien, 11).
27 Gerhard Botz : Oral History and Computing, in : Virginia Davis et al. (Hg.), The Teaching of Historical
Computing. An International Framework. A Workshop of the International Association for History and
Computing, University of London, 26–28 February 1993, St. Katharinen 1993, S. 63–68.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen