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Interviewten des MSDP |
Verfolgungsorten, vor allem durch systematische Zerstörungen der Lagerakten vor der
Befreiung, wird es jedoch nie möglich sein, alle Angaben der Interviewten zu über-
prüfen. Ziel dieser Recherchen war allerdings nicht, den «subjektiven» Daten, die von
den Überlebenden stammen, die «objektiven» Daten aus schriftlichen Quellen gegen-
überzustellen. Gerade in den täterproduzierten Quellen, wie etwa den Häftlingsperso-
nalkarten, finden sich häufig falsche oder gefälschte Angaben. Diese können von den
Häftlingen selbst herrühren, wenn sie etwa nach Ankunft in den Konzentrationslagern
bei der Registrierung unwahre Angaben zu Alter oder Beruf machten, um ihre Ăśber-
lebensmöglichkeiten zu verbessern. Sie können, worauf Kranebitter hinweist, jedoch
auch auf die Verschleierung von Verbrechen durch die SS oder auf Sabotage durch
Häftlingsfunktionäre in der Lagerverwaltung zurückzuführen sein.26
Gleichzeitig spiegelt die MSDP-Datenbank aber auch Narrative bestimmter natio-
naler Häftlingsorganisationen bzw. der in diesen vertretenen Häftlingsgruppen wider.
Zum Beispiel gaben besonders viele polnische Häftlinge, die sich zum politischen Wi-
derstand rechneten, an, dass sie in Mauthausen medizinischen Experimenten ausge-
setzt waren, worĂĽber es in bisher bekannten anderen Quellen keinen Hinweis gibt. Ob
hier noch nachvollziehbare Gründe für diese nationale Häufung zu finden sind oder
ob diese Aussagen eher den Diskursen um Restitution oder den Erzähltraditionen der
politischen Opferverbände zuzuschreiben sind, bleibt späteren Untersuchungen über-
lassen. VordergrĂĽndig entsteht aber der Eindruck, dass diese nationalen Besonder-
heiten auf eine starke Eigendynamik der nationalen Verbände zurückzuführen sind.27
Anders verhält es sich mit den zwölf aus Polen stammenden Überlebenden des MSDP,
die als «Sicherungsverwahrte» (SV) registriert wurden, das heißt von der deutschen
Sonderjustiz in den annektierten bzw. besetzten polnischen Gebieten zu – oftmals
langjährigen – Gefängnisstrafen verurteilt worden waren und erst im Zuge der Aus-
lieferung an die SS ab 1942 in ein Konzentrationslager ĂĽberstellt wurden. Keiner von
ihnen machte im Fragebogen Angaben zu seiner Haftkategorie. Vielmehr wurden ak-
tive Widerstandshandlungen bzw. ihre nationale oder ethnische Herkunft als GrĂĽnde
für ihre Verhaftung genannt.28 Tatsächlich wurden im «Rassekrieg der Justiz gegen
Polen»29 viele Untergrundkämpfer zunächst von der Justiz wegen ihrer politischen Ak-
26 Kranebitter, Zahlen als Zeugen (2014), S. 138–150. Der vom MSDP interviewte österreichische Überle-
bende Leopold Kuhn ist in den Akten des KZ Mauthausen z. B. als am 31.Â
März 1945 verstorben verzeich-
net. Tatsächlich war sein Name jedoch mit dem eines verstorbenen Häftlings vertauscht worden, um ihn
vor der Ermordung zu retten.
27 Vgl. Heinrich Berger : Quantitative Analyse der Datenbank des «Mauthausen Survivors Documentation
Project», in : Christoph Haidacher/Richard Schober (Hg.), Tagungsbericht des 24. Österreichischen His-
torikertages. Innsbruck, 20.–23. September 2005, Innsbruck 2006, S. 617–620.
28 In der Datenbank gibt es sowohl die von den Ăśberlebenden genannten HaftgrĂĽnde als auch die offiziellen
Häftlingskategorien der SS und die an der Häftlingskleidung zu tragenden «Winkel».
29 Nikolaus Wachsmann : Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, MĂĽnchen 2006,
S. 208.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen