Page - 106 - in Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik, Volume 1
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106 | Heinrich Berger und Alexander Prenninger
trationslager änderte sich die Bedeutung der Arbeit der Häftlinge immer wieder. Als
das KZ Mauthausen errichtet wurde, standen der Bau des Lagers und die Arbeit in den
Steinbrüchen im Vordergrund. Letztere diente neben den wirtschaftlichen Zwecken
der SS aber auch der systematischen Tötung von ganzen Häftlingsgruppen, der «Ver-
nichtung durch Arbeit».57
Mit der größer werdenden Bedeutung der Häftlinge als Zwangsarbeiter und -arbei-
terinnen für die Rüstungsanstrengungen des Deutschen Reichs ab 1942/43 erhielt auch
die Berufsausbildung der «alten» und der neu eintreffenden Häftlinge eine größere
Bedeutung. Spezialisierte Fachkräfte konnten an den Baustellen und den Produktions-
anlagen in ihren erlernten Berufen eingesetzt werden. Ein Einsatz als Hilfsarbeiter in
den Baulagern oder als Facharbeiter in den Produktionslagern, in einem «guten» oder
«schlechten Kommando» konnte lebensentscheidend sein.58 Den richtigen Beruf zu
haben, wird deshalb in den Berichten vieler Überlebender gleichbedeutend mit der
Möglichkeit zu überleben. Jean-Laurent Grey, ein französischer Überlebender, nannte
zum Beispiel drei Berufe – Musiker, Mechaniker und Mediziner –, mit denen man im
Lager «einen guten Job» bekommen konnte. Auch Solomon Salat betonte mehrfach,
wie wichtig es für sein Überleben war, dass er eine Mechanikerausbildung hatte. Der
französische Überlebende Paul Brusson war gelernter Schuster, kam dadurch in die SS-
Schusterei und konnte durch Arbeiten für Funktionshäftlinge zusätzliche Lebensmittel
bekommen.59 Der Beruf war aus dieser Sicht also ein wichtiges Kriterium, das für ihr
Leben entscheidend sein konnte.
Welche beruflichen Hintergründe hatten nun die MSDP-Überlebenden ? Zur Beant-
wortung dieser Frage muss unterschieden werden, welche Berufe die Überlebenden in
den Interviews angaben und welche Berufe in den SS-Quellen zu finden sind. Daraus
lassen sich auch Rückschlüsse ziehen, ob Häftlinge bewusst ihren Beruf verschwiegen
und einen anderen angegeben haben. Brusson berichtet auch, dass von den acht Schus-
tern in der SS-Schusterei nur vier eine entsprechende Ausbildung hatten.
Nach den Auskünften im MSDP-Interviewprojekt umfasst die größte Gruppe mit
23 Prozent Personen, die zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Mauthausen noch in Aus-
bildung waren : als Schüler und Schülerinnen, Studenten und Studentinnen oder Lehr-
linge. Diese Gruppe bildet das jüngste Stratum der MSDP-Interviewten. Ein Anteil von
chen 1946, S. 58, der zwischen sinnvollen und sinnlosen Arbeiten unterscheidet : «Im Ganzen gesehen
war ein erheblicher Teil der in den KL verlangten Arbeiten zwecklos, vielfach überflüssig oder miserabel
geplant, sodaß sie zwei- oder dreimal wiederholt werden mußten.»
57 Bertrand Perz : Der Arbeitseinsatz im KZ Mauthausen, in : Ulrich Herbert et al. (Hg.), Die nationalsozi-
alistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 2, Göttingen 1998, S. 533–557.
58 Perz, Arbeitseinsatz, S. 545 f.
59 Vgl. dazu Selma Leydesdorff : The State Within the State. An Artisan Remembers His Identity in Maut-
hausen, in : Cahier international sur le témoignage audiovisuel/International Journal on Audio-Visual
Testimony 10 (2004), S. 103–117.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen