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119Die
Interviewten des MSDP |
Wenn wir uns zunächst die Selbstzuschreibungen ansehen, zeigt die quantitative Aus-
wertung des ersten Verfolgungsgrundes, dass etwa 28 Prozent der MSDP-Überleben-
den angaben, aufgrund rassistischer NS-Gesetze und -Anordnungen verfolgt worden
zu sein, während 21,5 Prozent hier aktiven Widerstand nannten. Etwa 13 Prozent ga-
ben ihre politische Überzeugung als Verfolgungsgrund an und 11,6 Prozent, dass sie
zur Zwangsarbeit deportiert worden waren. Weitere 11,2 Prozent nannten ihre natio-
nale bzw. ethnische Herkunft als wichtigsten Grund der Verfolgung und fünf Prozent
waren Kriegsgefangene. Mit diesen sechs Kategorien sind etwa 90 Prozent der MSDP-
Überlebenden erfasst, der Rest verteilt sich auf kleinere Gruppen.
Vergleicht man die Verfolgungsgründe nach den Angaben der Interviewten mit jenen
der Gesamtzahl der in den SS-Quellen registrierten Häftlinge in Mauthausen, fällt zuerst
der höhere Anteil der als Juden und Jüdinnen Verfolgten auf, der sich zum einen durch
die Entscheidung des MSDP-Teams erklärt, die Anzahl der Interviews in dieser Gruppe
im MSDP-Sample bewusst zu erhöhen, um die lange Vernachlässigung jüdischer Opfer
auszugleichen ; zum anderen wurde ein Teil der als Juden/Jüdinnen verfolgten MSDP-
Überlebenden im Lager nicht mehr registriert, sodass ihr Anteil im Lager eigentlich hö-
her war, als die SS-Quellen vermuten lassen. Der Anteil jener, die sich als politisch oder
national bzw. wegen Widerstandshandlungen verfolgt betrachten, ist im Vergleich zur
Gesamtzahl nur geringfügig unterrepräsentiert (46 vs. 50 %), was auch auf die Kriegs-
gefangenen mit 5 vs. 6,9 Prozent zutrifft, während der Anteil von Zwangsarbeitern und
-arbeiterinnen fast genau jenem an der Gesamtgruppe entspricht (11,6 vs. 11,7 %).
Sieht man sich die von der Lager-SS zugewiesenen Haftkategorien genauer an, fin-
den wir in der Auswertung doch deutlich andere Prozentziffern : Erstens ist der Anteil
der als Juden/Jüdinnen Verfolgten mit 17,2 Prozent wesentlich geringer, da viele der
MSDP-Interviewten eben nicht mehr im Lager registriert wurden. Im Wesentlichen
handelt es sich dabei um jene ungarischen Juden und Jüdinnen, die zur Zwangsarbeit
am «Südostwall» eingesetzt waren. Diese Verfolgten finden sich unter den 16 Prozent
der Interviewten, zu denen keine Registrierungsunterlagen gefunden wurden. Zwei-
tens verwendete die SS für die Gruppe der politisch Verfolgten zwei unterschiedliche
Kategorien : ein Teil wurde als Schutzhäftlinge registriert, der andere als «Politische».
Aus welchen Gründen die Lager-SS diese unterschiedlichen Kategorien verwendete,
ist bisher nicht untersucht worden. Möglicherweise lag nicht in allen Fällen von als
«politisch» kategorisierten Häftlingen ein Schutzhaftbefehl vor. Zum Teil waren die
Kategorien auch austauschbar und wurden synonym verwendet. In 19 Fällen werden
Schutzhäftlinge in anderen SS-Dokumenten als «politisch» kategorisiert und in 34 Fäl-
len «Politische» auch als Schutzhäftlinge bezeichnet.74
Von Überlebenden wie auch in der Forschung wurde und wird immer wieder darauf
hingewiesen, dass die Zuteilung der Haftkategorien durch die SS oft willkürlich erfolgte
74 Vgl. dazu Annette Eberle : Häftlingskategorien und Kennzeichnungen, in : Wolfgang Benz/Barbara Distel
(Hg.), Der Ort des Terrors. Bd. 1 : Die Organisation des Terrors, München 2005, S. 91–109.
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen