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138 | Andreas Kranebitter
stands» beimaß, wird beispielsweise in einer Anordnung aus der Feder des damaligen
SS-Rapportführers an die «Häftlingsschreiber» deutlich :
«Die Lagerschreiber 1 und 2 nehmen die Zugänge gemeinsam auf. Bei der Verschiedenheit
der Nationalitäten ist schon eine gewissenhafte Befassung mit jedem einzelnen Neueingelie-
ferten erforderlich. Sind doch die Angaben, die bei dieser Gelegenheit zugrunde gelegt wer-
den maßgebend für sämtliche übrigen Dienststellen. Sprachkenntnisse und im Laufe der Zeit
erlernte Eigenheiten in den Nationalitäten und in der Behandlung der Einzelnen helfen zwar
aber [sic !] über die Schwierigkeiten hinweg. Es ist aber nur bei starker Konzentration mög-
lich, alle die Punkte und Fragen zu beantworten, die nun einmal bei einem Neueingelieferten
berücksichtigt werden müssen. Ein Versagen wäre da gleichbedeutend mit Durcheinander
und völliger Unübersichtlichkeit.»12
Die Berge des von der SS produzierten Materials konnten in den letzten Tagen vor der
Befreiung des KZ Mauthausen am 5. Mai 1945 nicht mehr vollständig vernichtet wer-
denÂ
– nicht zuletzt, weil einige Dokumente von einzelnen Häftlingen versteckt werden
konnten, um in den Nachkriegsprozessen gegen Mitglieder der Lager-SS als Beweis-
material zu dienen.13
Doch auch bei dieser relativ guten Quellenlage lässt sich keineswegs von einer voll-
ständigen Dokumentierbarkeit des Schicksals der ehemaligen Häftlinge des KZ Maut-
hausen durch die Aufzeichnungen der Lagerverwaltung sprechen. Sind sie schlieĂźlich
überhaupt vorhanden, weisen diese Dokumente erhebliche «Mängel» auf : Zunächst
war es fĂĽr viele KZ-Häftlinge eine Frage des Ăśberlebens, ihre eigenen DatenÂ
– zum Bei-
spiel in Bezug auf ihr Alter oder ihren Beruf – zu fälschen. Die «Sabotage» der Daten-
erhebung erfolgte daher durch die Häftlinge selbst, war darüber hinaus aber auch ein
wichtiger Bestandteil der Arbeit des organisierten Widerstands der politischen Funk-
tionshäftlinge.14 In weitaus größerem Ausmaß wurden die Daten der ehemaligen Häft-
linge aber durch die SS selbst gefälscht, um die realen Zustände in den Lagern zu ver-
schen KZ-Gedenkstätten (Hg.), Gedenkbuch für die Toten des KZ Mauthausen. Bd. 1 : Kommentare und
Biografien, Wien 2016 [im Weiteren zit. als : Gedenkbuch Mauthausen].
12 Arbeitsanweisung fĂĽr die Lagerschreibstube, AMM, F/17/01.
13 Vgl. z. B. «Die Totenbücher des K.L. Mauthausen» (Bericht über die «Rettung» der Totenbücher durch
Ernst Martin), AMM, St/09/01. Eine bedeutende Rolle spielten bei den Nachkriegsprozessen auch Foto-
grafien aus dem Lager, siehe dazu : Benito Bermejo : Francisco Boix, der Fotograf von Mauthausen, Wien
2007 (Mauthausen-Studien, Sonderbd.).
14 Vgl. zu diesem auch in der Erinnerungsliteratur sehr oft dargelegten Punkt z. B. DrahomĂr Bárta : Tage-
buch aus dem KZ Ebensee, Wien 2005, S. 111 ; Ladislaus Szücs : Zählappell. Als Arzt im Konzentrations-
lager, Frankfurt a. M. 1995, S. 67–68. Zur individuellen Fälschung der eigenen Daten bei der Registratur
vgl. Jorge Semprún : Was für ein schöner Sonntag !, Frankfurt a. M. 51994 [1980], S. 92–95 ; Ruth Klüger :
weiter leben. Eine Jugend, München 1994 [1992], S. 130–134.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen