Page - 256 - in Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik, Volume 1
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256 | Christian DĂĽrr und Ralf Lechner
11.000 jüdischen Häftlinge unter ihnen waren in Auschwitz dem Tod entronnen, hatten
zugleich aber einen GroĂźteil ihrer Familie verloren. Viele waren bei ihrer Ankunft fĂĽr
den Arbeitseinsatz in den Außenlagern bereits zu geschwächt. Man verlegte sie daher
zumeist entweder direkt ins Sanitätslager oder brachte sie notdürftig im seit Herbst 1944
bestehenden Zeltlager oder in den ebenfalls neu hinzugekommenen Lagerteilen II und
III unter. Dies hatte zur Folge, dass sich die Zahl der Häftlinge im Hauptlager zwischen
Jahresbeginn und Anfang März von etwa 10.000 auf knapp 20.000 beinahe verdoppelte.
In den Gusener Lagern zählte man zur selben Zeit etwa 25.000 Häftlinge.192
Die ĂśberfĂĽllung der Zielorte Mauthausen, Gusen, Ebensee und Gunskirchen in-
folge der Evakuierungstransporte aus anderen Lagern sowie die immer mangelhaftere
Versorgung verschlimmerten die Lebenssituation der Häftlinge zusehends. Dass deren
Gesamtzahl im Jahr 1945 nicht permanent weiter anstieg, lag an den in dieser Phase
hohen Todeszahlen. Allein in den Monaten von Jahresbeginn bis zur Befreiung An-
fang Mai 1945 dĂĽrften im gesamten Lagersystem Mauthausen zwischen 34.000 und
40.000 Häftlinge zu Tode gekommen sein.193 Die SS verfolgte in dieser Phase verstärkt
das Ziel, sich der kranken und arbeitsunfähigen Häftlinge zu entledigen. Kranke aus
neu eintreffenden Transporten wurden zum Teil sofort bei Ankunft ausgesondert und
getötet. In der Gaskammer des Hauptlagers sowie in einer Unterkunftsbaracke in Gu-
sen brachte die SS im April 1945 Zyklon B zum Einsatz, um ganze Gruppen kranker
Gefangener zu ermorden.194 Massensterben und Massentötungen führten unter an-
derem dazu, dass die Kapazität des einzigen zu diesem Zeitpunkt im Hauptlager in
Betrieb befindlichen Krematoriumsofens nicht mehr ausreichte, sämtliche Leichen zu
verbrennen.195 Die SS ließ daher im Februar nördlich des Lagers bei der sogenannten
Marbacher Linde ein Massengrab anlegen. Zum Selbstschutz der SS durften in diesem
nur Häftlinge beerdigt werden, die eines natürlichen Todes verstorben waren.196 Pläne,
die KrematorienÂ
II und III aus dem aufgelösten Lager Auschwitz-Birkenau in der Nähe
192 Vgl. Rapportbuch, AMM E/6/11.
193 29.891 namentlich bekannte Personen sind in diesem Zeitraum in der Metadatenbank des AMM als
verstorben verzeichnet. DarĂĽber hinaus sind die Namen zahlreicher Toter, vor allem die der vom SĂĽd-
ostwall nach Mauthausen evakuierten ungarisch-jüdischen Häftlinge, unbekannt. Kranebitter geht da-
von aus, dass bis zur Befreiung mindestens 4324 und höchstens 10.409 Personen unbekannten Namens
starben. Vgl. Kranebitter, Zahlen als Zeugen (2014), S. 171–173.
194 Bertrand Perz : Verbrechen in der Endphase : Der Konzentrationslagerkomplex Mauthausen, in : Detlef
Garbe/GĂĽnter Morsch (Hg.), Kriegsendverbrechen zwischen Untergangschaos und Vernichtungspro-
gramm, Berlin 2015 (Konzentrationslager. Studien zur Geschichte des NS-Terrors, 1), S. 63–80, hier
72 f. Vgl. dazu auch : Hördler, Ordnung und Inferno, S. 438–447.
195 Der zweite, im Mai 1942 in Betrieb gegangene Ofen der Firma Kori, der mit Ă–l beheizt wurde, musste
aufgrund von Treibstoffmangel spätestens im Sommer 1944 stillgelegt werden. Erst Mitte April 1945
wurde mit der Inbetriebnahme eines Doppelmuffelofens von Topf & Söhne die Verbrennungskapazität
im Hauptlager wieder gesteigert. Vgl. Bertrand Perz et al.: Die Krematorien von Mauthausen. Katalog
zur Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2008, S. 44 u. 62.
196 Perz etÂ
al., Die Krematorien von Mauthausen [Katalog], S. 65 ; Perz, Verbrechen in der Endphase, S. 76 f.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
Volume 1
- Title
- Mauthausen und die nationalsozialistische Expansionsund Verfolgungspolitik
- Volume
- 1
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Heinrich Berger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21217-1
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 426
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen