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60 | Melanie Dejnega
Narrative Stationen auf dem Lebensweg in das nationalsozialistische
Lagersystem
Die fĂĽnf Interviewpartner unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht voneinander : nicht
nur bezĂĽglich ihrer Verfolgungserfahrungen und deren Konsequenzen fĂĽr das Leben
danach, sondern auch ihre soziale und ethnische Herkunft betreffend. Betrachtet man
aber den Handlungsverlauf in ihren lebensgeschichtlichen Erzählungen, so weist die-
ser bei allen Ăśberlebenden eine Gemeinsamkeit auf : Es gibt darin einen Moment des
Bruchs, einen Moment, an dem das bisherige Leben, so wie es ursprĂĽnglich geplant
gewesen war, nicht mehr fortgesetzt werden konnte.
Die Abschnitte in den Lebensgeschichten, die sich mit der Zeit vor der Deportation
beschäftigten, umfassen im Wesentlichen drei Motive. Ihrer Darstellung und der Ana-
lyse ihrer Abhängigkeit von der individuellen lebensgeschichtlichen Sinnkonstruktion
werde ich mich im Folgenden widmen.
Kindheit und Jugend vor der nationalsozialistischen MachtĂĽbernahme
Auf den ersten Blick scheinen die Kindheits- und Jugenderzählungen der Interview-
partner keineswegs von der späteren Erfahrung politischer und rassistischer Verfol-
gung durchdrungen. Zum einen sind es oft negative Umstände wie Armut, Wohnungs-
not oder Strenge der Eltern, die im Zentrum der Kindheit stehen. Es gibt aber auch
positive Narrationen, die ein beinahe idyllisches Bild von den Kindheitstagen malen –
als einer Zeit, in der alles noch gut gewesen sei, die Eltern fĂĽrsorglich und das Leben
unbeschwert. Eine kritisch-hermeneutische LektĂĽre der Interviews zeigt allerdings,21
dass sich die Erfahrung von nationalsozialistischer Verfolgung und sozialem Aus-
schluss bereits in den Kindheitserzählungen finden lassen, ja diese sogar dominieren.22
Sie ermöglichen den Überlebenden, Verfolgung und Ausgrenzung entlang eines «roten
Fadens», der bis in die Kindheit reicht, in ihre Lebensgeschichte zu integrieren.
Dies war am stärksten bei jenen Interviewpartnern der Fall, die von den National-
sozialisten aus rassistischen Gründen – sei es als «Jude» oder als «Zigeuner» – verfolgt
wurden : Sowohl Fritz Kleinmann als auch Michael Horvath kämpften nach ihren
Erzäh lungen bereits in ihrer Kindheit und Jugend gegen rassistische Zuschreibungen
an, von denen sie betroffen waren. Auch in den Interviews mit politisch oder reli-
giös Verfolgten – also dem Katholiken Hermann Lein, dem Kommunisten Leopold
21 Nach Christian Geulen und Karoline Tschuggnall geht es bei einer solchen darum, «zum Tragen kom-
mende Strategien der biographischen Sinnbildung» offenzulegen. Siehe Christian Geulen/Karoline
Tschuggnall : Einleitung, in : dies. (Hg.), Aus einem deutschen Leben. Lesarten eines biographischen In-
terviews, Tübingen 2000 (Studien zum Nationalsozialismus in der Edition Diskord, 2), S. 7–16, hier 15.
22 In meiner Dissertation konnte ich zeigen, dass Kindheits- und Jugenderzählungen mehr noch als Er-
zählungen über andere Lebensabschnitte dem Konstruktionsprinzip der autobiografischen Sinngebung
unterworfen sind. Dejnega, «Heimat» im Gepäck ?, S. 157.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen