Page - 103 - in Deportiert nach Mauthausen, Volume 2
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103Kommunisten,
Juden und SS-Angehörige, Tschechen, Deutsche und Ruthenen |
Sträfling[s]kleidung und er als Kapos die Gelegenheit gehabt hat, sich normale Zivilkleidung
zu beschaffen, sodass er den Bahnhof verlassen hat, mit Haaren und mit Zivilkleidung […].
Mir wäre es wahrscheinlich nicht gelungen. Ich bin also zurück in diesen Kohlenwagen und
dann […] ging es quer durch Mähren über Wien, St. Pölten nach Mauthausen.»64
Im Gegensatz zu den Erinnerungen zahlreicher politischer Häftlinge an ihren Weg
nach Mauthausen ist Broziks Schilderung keine heldenhafte : Der leise Gedanke an
Widerstand und Flucht wird sofort wieder fallen gelassen ; Realismus tritt an die Stelle
von unbefangener Zuversicht und KĂĽhnheit.65
Brozik erinnert sich nicht nur an die unmenschlichen Bedingungen des Todesmar-
sches durch Schnee und Kälte, sondern auch an Akte der Solidarität der lokalen Bevöl-
kerung, die den KZ-Häftlingen Essen zugesteckt hätten.
«Also, es gab auch in dieser Hinsicht viel Sympathien, leider, muss ich sagen, nicht in Öster-
reich. Überhaupt nicht in Österreich. Aber in Schlesien und auf der Durchfahrt durch Mäh-
ren, durch die Tschechen und die Mährer, haben wir viel Sympathie, Kundgebungen in dieser
Hinsicht erfahren.»66
Brozik spricht nicht mehr, wie etwa Karel Littloch, von einer Stimmung des allgemei-
nen MitgefĂĽhls und Mitleids, sondern unterscheidet deutlich zwischen Situationen der
Sympathie gegenüber den KZ-Häftlingen auf der einen Seite und der Absenz dieser
Solidarität auf der anderen.
Ungefähr einen Monat nach Karl Brozik erreichte im Februar 1945 der damals
knapp 44Â Jahre alte tschechische Maler, Karikaturist und Grafiker Leo (Lev) Haas aus
Sachsenhausen kommend Mauthausen. In Troppau (Opava) geboren, studierte er in
Karlsruhe und Berlin Malerei und arbeitete danach als Pressezeichner und Karikaturist
in seiner Heimatstadt und in Ostrau. Im Oktober 1939 wurde Leo Haas mit zahlrei-
chen weiteren Juden aus Ostrau nach Nisko sĂĽdlich von Lublin deportiert, kehrte je-
doch nach der Auflösung des Lagers im April 1940 wieder zurück. Knapp zweieinhalb
Jahre später wurde er neuerlich festgenommen und ins Ghetto Theresienstadt gebracht,
wo er im Technischen BĂĽro mit weiteren KĂĽnstlern zusammentraf. Aufgrund der Ver-
breitung von «Gräuelpropaganda», das heißt wegen illegal angefertigter realistischer
Darstellungen des Lebens im Ghetto, brachte man Haas gemeinsam mit Bedřich Fritta
(Fritz Taussig), Otto Ungar und anderen im Juli 1944 in das Gestapogefängnis in der
64 AMM, MSDP, OH/ZP1/232, Interview mit Karl Brozik, Interviewer : Alexander von Plato, Frankfurt
a. M. 4. 1. 2003, Transkript, S. 18. Eine gekürzte Fassung ist in der Videoausstellung der KZ-Gedenkstätte
Mauthausen zu sehen, URL : https://www.mauthausen-memorial.org/de/Wissen/ZeitzeugInnen/Karl-
Brozik-(urspr-Abeles)-BRD (24. 9. 2020).
65 Vgl. dazu die Schilderung einer ähnlichen Situation bei AMM, MSDP, OH/ZP1/812, Interview mit Helga
Weissová-Hošková, Interviewerin : Jana Drdlová, Prag, 22. 2. 2003, Übersetzung, S. 18 f.
66 AMM, MSDP, OH/ZP1/232, Interview Brozik, S. 63.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen