Page - 111 - in Deportiert nach Mauthausen, Volume 2
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111Biografische
Hintergründe und präkonzentrationäre Identitäten von polnischen Deportierten |
macht dieses Bild komplizierter und verleiht ihm zusätzliche Facetten. Die Einliefe-
rung ins Lager war ein Ritual des Wandels – schockierend, erschreckend, mit nichts
zu vergleichen. Und nahezu fĂĽr alle identisch. Aber dann, je tiefer sie in die Lagerrea-
lität eintauchten, in ihr blieben und sich ihr anpassten, knüpften und unterhielten die
Häftlinge neue Beziehungen, schlüpften in neue Rollen, bauten unter extrem schwieri-
gen Bedingungen, in größter Not, eine reduzierte und verzerrte neue soziale Welt auf.
Eine neue, aber von dem frĂĽheren Leben, der frĂĽheren Stellung, der gesellschaftlichen
Rolle und dem sozialen Potenzial wahrscheinlich nicht völlig entfernte Welt. Wer eine
Kontinuität nicht aufrechtzuerhalten vermochte oder keine Chance dazu hatte, hat
nicht ĂĽberlebt. Unsere Gesprächspartner haben ĂĽberlebtÂ
– sie bekamen (verschiedene)
Chancen und vermochten sie (verschieden) zu nutzen. Umso wichtiger ist es zu wissen,
wer sie waren, bevor sie sich zum ersten Mal dem Lagertor näherten – wie ihre soziale
Identität war.
Ich möchte hier zumindest einige, vielleicht die am meisten charakteristischen
Schicksale und Identitäten aus der Vorkriegszeit anführen, die wir bei unseren Gesprä-
chen mit den polnischen Zeitzeugen aus Mauthausen aufgezeichnet haben. Wir sollten
jedoch bedenken, dass wir nur mit ganz wenigen – und den jüngsten – ehemaligen
Häftlingen sprechen konnten, die den Anfang unseres Jahrhunderts erlebt und noch
so viel Kraft hatten, dass sie mit uns zusammen diese Erinnerungsarbeit aufnehmen
konnten – und auch überzeugt waren, dass diese Arbeit noch sinnvoll ist.3
Kategorien der Differenzierung – Alter, Herkunft, Milieu
Der älteste Zeitzeuge, dessen Bericht im Rahmen des MSDP aufgezeichnet wurde,
Stanisław Dobosiewicz, wurde im Oktober 1910 geboren, der jüngste, Jan Wojciech
Topolewski, im Dezember 1931. Ersteren hat die Gestapo im April 1940 verhaftet, er
kam für kurze Zeit in das Durchgangslager Soldau (Działdowo) und von dort in das
Lager Dachau. Nach einer Quarantäne von einigen Wochen wurde er direkt nach Gu-
sen ĂĽberstellt, wo er die Nummer 166 erhielt und wo er bis zur Befreiung verblieb.
Topolewski kam im Spätsommer 1944 in einem der ersten großen Warschauer Trans-
porte (ĂĽber Auschwitz) nach Mauthausen. In diesen Transporten wurde die Zivilbe-
völkerung während des Warschauer Aufstands zu Zwangsarbeiten in verschiedene La-
ger verbracht. In Mauthausen erhielt Topolewski die Nummer 102.403, später wurde er
nach Gusen I überstellt. Die völlig unterschiedlichen Schicksale aus der Vorkriegszeit
3 Dieser Artikel kann weder eine synthetische Darstellung der polnischen Geschichte der Zwischenkriegs-
zeit noch der Geschichte von Krieg und Besatzung auf polnischem Boden ersetzen. Unter der umfang-
reichen Literatur zum Thema, die auch in deutscher Sprache vorliegt, ist die Arbeit von Włodzimierz
Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, MĂĽnchen 2010, besonders empfehlenswert. Sie bietet
auch eine umfangreiche Bibliografie historischer Quellen und Studien.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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book Deportiert nach Mauthausen, Volume 2"
Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen