Page - 119 - in Deportiert nach Mauthausen, Volume 2
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119Biografische
Hintergründe und präkonzentrationäre Identitäten von polnischen Deportierten |
Staatsgebiets ausmachte und dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung – polnische
Staatsbürger, auch wenn nicht immer ethnische Polen – unter brutalen Repressionen
zu leiden hatte. Als im Juni 1941 das Deutsche Reich die Sowjetunion überfiel, kam
es in diesen Gebieten zu den brutalsten Verbrechen. Opfer von Massenvernichtun-
gen wurden vor allem die Juden. Unter «normalen» Verfolgungen hatten auch andere
ethnische Gruppen, darunter die Polen, zu leiden. Sie wurden eingesperrt und in Kon-
zentrationslager geschickt. Erlebnisse aus beiden Besatzungsteilen
– dem sowjetischen
und dem deutschen – und die unmittelbaren Repressalien beider Besatzer finden sich
im Spektrum der unterschiedlichen Erfahrungen polnischer Häftlinge auf ihrem Weg
nach Mauthausen wieder.
Jedoch der überwiegende Teil der polnischen Mauthausen-Häftlinge stammte aus
Regionen, die bereits zu Kriegsbeginn unter die deutsche Herrschaft kamen. Schon im
Oktober 1939 wurde das von Deutschen besetzte Gebiet Polens durch eine Entschei-
dung Hitlers geteilt. Der Westen und Norden wurden unmittelbar dem Reich einver-
leibt.15 Auf dem restlichen Territorium wurde eine gesonderte, dem «Dritten Reich»
unterstellte Verwaltungseinheit, das Generalgouvernement, gebildet. In jedem Teil galt
ein anderes Recht, in jedem Teil wurde die Bevölkerung anders behandelt. Grundsätz-
lich waren die Repressalien in den an das Reich angeschlossenen Gebieten viel schlim-
mer, es gab jedoch Ausnahmen.
Nach Mauthausen kamen Polen aus beiden «deutschen» Teilen. Auf den ersten
Blick ist es schwer, die Unterschiede der individuellen Schicksale aus der Zeit vor dem
Lager, die auf diese Gebietsteilung zurückgehen, auszumachen. Aber das Wissen um
diese Unterschiede erklärt, warum jemand als Mitglied einer Untergrundorganisation
in Polen für lange Zeit in ein Berliner Gefängnis kam, verhört, gefoltert und schließ-
lich wegen Landesverrats in einem Prozess vor einem deutschen Gericht angeklagt, zu
sechs Jahren Straflager verurteilt und in ein KZ eingewiesen wurde und im Lager die
Haft kategorie SV («Sicherungsverwahrter») und einen grünen Winkel erhielt.16 Für
dasselbe «Verbrechen» gelangte jemand aus dem besetzten Warschau oder Krakau in
der Regel viel schneller und ohne diese Formalitäten ins Lager, wo er den für die Polen
üblichen roten Winkel mit dem Buchstaben P erhielt.17
Janusz Gajewski, Interviewerin : Dorota Pazio, Warschau, 9. 12. 2002/27. 1. 2003 ; OH/ZP1/566, Interview
mit Zbigniew Dębiński, Interviewerin : Dorota Pazio, Łódź, 18. 9. 2002.
15 Die Woiwodschaften Pommern, Schlesien, Posen, Łódź, die Gebiete um die Stadt Suwałki, der nördliche
und westliche Teil von Masowien sowie die westlichen Teile der Woiwodschaft Krakau und Kielce wur-
den an das Reich angeschlossen als Reichsgau Danzig-Westpreußen, Provinz Niederschlesien, Provinz
Oberschlesien, Reichsgau Wartheland und Provinz Ostpreußen.
16 Siehe Interview mit Bolesław Gajewski, der auch über Stigmatisierungen dieser «unpolitischen» Häft-
lingsgruppen nach dem Krieg spricht (AMM, MSDP, OH/ZP1/398).
17 Von den Interviewten, die über ihre monatelange Gefangenschaft in Gestapo-Gefängnissen sprechen,
siehe z. B. Edmund Pituła (AMM, MSDP, OH/ZP1/560), Czesław Partyka (AMM, MSDP, OH/ZP1/395),
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen