Page - 125 - in Deportiert nach Mauthausen, Volume 2
Image of the Page - 125 -
Text of the Page - 125 -
125Biografische
Hintergründe und präkonzentrationäre Identitäten von polnischen Deportierten |
Professoren mit ihren Unterschriften. Die Inskription und die Unterschriften, die bestätigen,
dass ich die Vorlesungen besucht habe.»23
Diese Passage ist mehr als nur ein einfacher Bericht ĂĽber die Schul- und Hochschul-
zeit des Erzählers. Mit welchem emotionalen Engagement Dobosiewicz über jene Zeit
spricht, geht aus dem geschriebenen Text kaum hervor, ist jedoch in der Audioaufzeich-
nung sehr gut erkennbar. Als sein Interviewpartner habe ich diese Tatsache noch gut
in Erinnerung. In Dobosiewicz’ Erzählung spürt man seine damalige Neugier, die Welt
zu erforschen, und die Leidenschaft, Neues zu erkennen. SpĂĽrbar ist auch der Stolz auf
seine damaligen Errungenschaften.24
Der Erzähler hat einen besonderen Grund, stolz zu sein. Die erworbene Bildung war
durchaus nicht selbstverständlich, sie war mit großer Mühe verbunden, nicht nur mit
der gewöhnlichen Mühe einer intellektuellen Arbeit, sondern ebenso – oder vielmehr
besonders – mit einer zusätzlichen Mühe : der Überschreitung gesundheitlicher Ein-
schränkungen, aber vor allem der Überwindung finanzieller Schwierigkeiten, musste
man doch für Mittelschule und Studium zahlen. Stanisław Dobosiewicz hatte viele Ge-
schwister – er war eines von neun Kindern, was damals in Polen demografisch nicht
selten war. Obwohl die Familie keine Armut litt und sie eine Zeitlang relativ gut da-
stand, musste er sich sein Schulgeld selbst verdienen, zumindest zum Teil. Er hatte also
etwas erreicht, was den meisten Vertretern seiner Generation verwehrt war – auch
vielen unserer Gesprächspartner. Aber auch Dobosiewicz musste bald die viel verspre-
chende akademische Laufbahn unterbrechen, um seinen Lebensunterhalt zu verdie-
nen :
«Professor Doroszewski hatte mich als seinen zukünftigen Assistenten ausersehen. Er wollte
in mir das Interesse für Dialektologie wecken. Ich begann mich tatsächlich dafür zu interes-
sieren. Als Forschungsgebiet wählte ich die Region Kurpie und fuhr sogar dorthin mit einem
Ferienstipendium der Universität. Ich habe auf dem Fahrrad zwei Mal die ganze Region von
Przasnysz bis Kolno durchquert. Entlang der ostpreußischen Grenze habe ich etliche Gesprä-
che mit Polen auf der anderen Seite der Grenze, aus dem Masurenland, gefĂĽhrt, die in dem-
selben Dialekt sprachen wie die Bewohner von Kurpie. Nach Erlangung des Magistergrades
bereitete ich meine Dissertation vor, fĂĽr die ich ein Stipendium der Stiftung der Nationalen
Kultur bekam.25 150 Złoty monatlich, das war viel. Mehr als ein Lehrergehalt. Das war sehr
23 AMM, MSDP, OH/ZP1/075, Interview Dobosiewicz.
24 Ein ähnlicher Stolz, der auf die Kontakte mit berühmten Persönlichkeiten zurückzuführen ist, klingt
in der Erzählung eines anderen Häftlings aus der Akademiker-Gruppe, Stefan Pręgowski, durch. Vgl.
AMM, MSDP, OH/ZP1/088, Interview mit Stefan Pręgowski, Interviewer : Piotr Filipkowski, Warschau,
22. 4. 2002.
25 Die Stiftung der Nationalen Kultur (Fundusz Kultury Narodowej, FKN) wurde am 2. April 1928 gegrĂĽn-
det. Sie hatte die Aufgabe, die polnische Wissenschaft und Kultur zu unterstützen, hauptsächlich mit
Hilfe von Stipendien, die an junge Wissenschaftler und KĂĽnstler vergeben wurden.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
back to the
book Deportiert nach Mauthausen, Volume 2"
Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen