Page - 186 - in Deportiert nach Mauthausen, Volume 2
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186 | Anne-Marie Granet-Abisset
ten. Exkursionen werden auch an die Internierungsorte selbst organisiert, nach Ausch-
witz, nach Mauthausen, Dachau, Buchenwald oder Struthof (Natzweiler) etc. Noch in
den letzten Jahren hat eine Reihe ehemaliger Deportierter in diesen verschiedenen
Lagern Schulklassen bei diesen Gedenkbesuchen begleitet. Die Deportierten, die der-
art als Zeitzeugen bei unterschiedlichen Aktivitäten involviert sind, waren immer der
Meinung, dass diese unbedingt Teil ihrer Mission bei den neuen Generationen wären.
Andere Überlebende (im Übrigen oft die gleichen) haben beträchtliche Erfahrung bei
der Präsentation ihrer Zeugenberichte erworben und ihre Erzählung formalisiert, in-
dem sie sich auf nationaler oder auf Departements-Ebene am Concours de la Résistance
in den französischen Mittelschulen und Gymnasien beteiligt haben. Kurz : eine wirkli-
che und gründliche Tradition der Zeugenschaft, die fertig ausgearbeitete Erzählungen
bietet.
Wenn diese ehemaligen Deportierten also daran gewöhnt waren, Zeugnis abzulegen,
so waren die meisten doch weniger vertraut mit dem Interview zu zweit und nach
einem offiziellen Prozedere, oder ganz einfach damit, aufgezeichnet zu werden. Das
hat sie manchmal in eine heiklere Situation versetzt und mag dazu beigetragen haben,
ihre Äußerungen zu modifizieren. In dem zusammengestellten Sample ergeben sich
bei den wenigen Überlebenden, die niemals offiziell Zeugnis abgelegt hatten16 – was
nicht heißt, dass sie nie davon gesprochen hatten –, gewisse Unterschiede, sowohl was
den Gesprächsprozess als auch den Aufbau der Erzählung betrifft. Diese Personen sa-
hen dem Treffen mit dem Interviewer oft voll Unruhe entgegen. Diese Unruhe ist bei
den Videointerviews besonders deutlich zu spĂĽren, vor allem zu Beginn,17 mehr als bei
den einfachen Audiointerviews. In den 2000er Jahren kennt man die Rolle der Medien,
den – zugleich gefürchteten und erhofften – Einfluss des Bildes. Alle haben eine mehr
oder weniger bewusste Vorstellung davon, dass sie eben dadurch, dass sie Zeugnis
ablegen, zum Subjekt der Geschichte werden, einer bekannten Geschichte, als deren
Akteure anerkannt zu werden sie jedoch am Ende ihres Lebens einmal, ein letztes Mal
oder ein weiteres Mal akzeptieren. Mehrere Faktoren erklären diese Angst : die Sorge,
nicht korrekt zu antworten, etwas nicht zu wissen, sich nicht erinnern zu können. Sie
fürchteten vor allem, eine Lebensgeschichte anzubieten, die womöglich völlig uninte-
ressant wäre. Man kann manchmal die Angst erkennen, dass ihre «Version» sich von
jener unterscheiden könnte, die man in diversen Büchern nachlesen kann, Bücher, auf
die sie sich im Übrigen berufen, um ihre Äußerungen zu legitimieren. Diese Unruhe
spiegelt gut wider, worum es sich bei dem handelt, was ich die «Deportierten-Erzäh-
lung» nenne : eine Mischung aus Wahrem, Erlebtem, Gelerntem und Rekonstruiertem.
Die Kenntnis der historischen Studien, aber mehr noch die publizierten Zeugenbe-
richte, die Ausstrahlung von Sendungen, die Dokumentarfilme oder die Doku-Fiktio-
16 Vor allem jene ländlicher Herkunft, die seltener befragt wurden.
17 Körperhaltungen, Momente des Zögerns, gezwungene Scherze … – eine Unruhe, die durch die Zeit ver-
stärkt wird, die die Einrichtung der Kamera und der Beleuchtung in Anspruch nimmt.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen