Page - 316 - in Deportiert nach Mauthausen, Volume 2
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316 | Irina Scherbakowa
stuft wurden, wie zum Beispiel Partisaninnen oder Untergrundkämpferinnen. Sowje-
tische Frauen, die Militärangehörige waren (meistens als Ärztinnen oder Sanitäterin-
nen), kamen erst in die Kriegsgefangenenlager (hauptsächlich Durchgangslager) und
wurden dann später in Arbeits- oder KonzentrationslagerÂ
– häufig nach RavensbrĂĽckÂ
–
gebracht.
Was die Gruppe der Kriegsgefangenen betrifft, so muss man hervorheben, dass die
meisten zwischen 1918 und 1922 geboren und damit um einige Jahre älter als die in
das Deutsche Reich deportierten zivilen Zwangsarbeiter waren. Am 1. September 1939,
am Tag, als der Zweite Weltkrieg begann, wurde in der Sowjetunion das Gesetz ĂĽber
die allgemeine Wehrpflicht verabschiedet und das Einberufungsalter auf das 18. Le-
bensjahr gesenkt. Auf diese Weise wurde es möglich, die Rote Armee bis zum Sommer
1941 auf die Zahl von 5,5 Millionen Soldaten zu vergrößern. Aber trotz dieser «Ver-
jüngung», durch die auch viele ungeschulte und unerfahrene Soldaten in die Armee
kamen, waren die von uns befragten Vertreter dieser Kategorie gebildeter und auch
etwas lebenserfahrener als die meisten Zwangsarbeiter, die zu Beginn des Krieges oft
noch Schulkinder waren. In der Armee waren viele junge Soldaten und Offiziere auch
Mitglieder der Komsomol, des kommunistischen Jugendverbandes, geworden und
besaĂźen Personalpapiere.4 Diejenigen, die ein Jahr frĂĽher (1940) einberufen worden
waren, standen auch ungleich stärker unter dem Einfluss der sowjetischen Propaganda,
da sie in der Armee ständige Politschulungen hatten.
Die zweite und eigentlich die größte Gruppe der Häftlinge waren die Zwangsarbeiter
und Zwangsarbeiterinnen, die mit den Geburtsjahrgängen 1924 bis 1927 allgemein
etwas jĂĽnger als die Kriegsgefangenen warenÂ
– besonders die jungen Männer, die unter
dem Einberufungsalter standen. Chronologisch begann deren Weg nach Mauthausen
in den meisten Fällen auch etwas später – ab dem Frühjahr 1942, als die Deportatio-
nen in das Deutsche Reich in großem Umfang einsetzten5 – und dauerte bis zum
Sommer 1944, als die Rote Armee schon die alte sowjetische Grenze von 1939 ĂĽber-
schritt. Typisch fĂĽr diese Gruppe waren einerseits ihre Erlebnisse als Zivilisten unter
der deutschen Besatzung ; anderseits waren viele von ihnen Dorfbewohner, stammten
aus Bauernfamilien, wo die Schulbildung zwischen vier bis sechs Klassen lag und ihre
Lebenserfahrungen noch sehr karg waren. Sie sind in ihren Darstellungen der Deut-
4 Wichtig ist zu betonen, dass auch nach der EinfĂĽhrung des Personalausweissystems in der Sowjetunion
im Jahr 1935 die Kolchosbauern keine Personaldokumente bekommen hatten ; diese wurden nur im Falle
des Verlassens des Dorfes und mit sehr groĂźen Schwierigkeiten ausgestellt. Das spielte eine Rolle fĂĽr die
Zwangsarbeiter, weil es ihnen die Möglichkeit gab, ihre Personalangaben wie Alter, Name und Nationali-
tät bei der Deportation zu fälschen. Das wurde in den Interviews in mehreren Fällen betont.
5 Vgl. Pavel Polian : Žertvy dvuch diktatur. Žizn’, trud, uniženie i smert’ sovetskich voennoplennych i ost -
ar bajterov na ÄŤuĹľbine i na rodine [Opfer zweier Diktaturen. Leben, Arbeit, DemĂĽtigung und Tod sowje-
tischer Kriegsgefangener und Ostarbeiter im Ausland und in der Heimat], Moskvu 22002 [1996], S. 157–
171.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen