Page - 326 - in Deportiert nach Mauthausen, Volume 2
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326 | Irina Scherbakowa
das war eine wilde Horde, wie Büffel oder Hirsche. Die fliehen. Zieht so einer das Militär-
hemd aus, kommt in eine Siedlung – und : Frau, gib mir etwas Ziviles, zum Umziehen. Und
die Deutschen sind auf den Fersen. Nach drei Tagen kamen wir nach Donezk, nach Stalino.»22
Die Panik wurde umso grösser, als das, was nun geschah, völlig kontrovers zu all dem
stand, was man vor dem Krieg von der Propaganda gehört hatte. Jetzt schien alles
zusammengebrochen zu sein, und der Weg zur «unbesiegbaren Festung» Moskau war
nun frei.23 Wassili Gontscharows Einheit, bzw. was von ihr ĂĽbrig war, hatte sich bereits
unmittelbar nach Kriegsbeginn von ihrem Einsatzgebiet in Brest an der Westgrenze
WeiĂźrusslands nach Gomel (Homel) im Osten des Landes zurĂĽckziehen mĂĽssen :
«Und etwas später hat es schon geheißen, dass Gomel komplett von den Deutschen besetzt
ist. Na wir sind dann in Gruppen/ Man hat zu uns gesagt : ‹Euch geben wir nirgendwohin, Ihr
bleibt, was ihr seid : eine vorgeschobene Einheit hier. Ohne UnterstĂĽtzung aus dem Hinter-
land.› Sie haben alle zusammengeholt und wir sind, wieder in so kleinen Gruppen/ Sie haben
gesagt, wenn wir den Deutschen nur eine Sekunde [betont] lang aufhalten, ist das schon ein
Sieg. Wenn wir sie nur eine Sekunde [betont] lang aufhalten. Damit sie nicht auf Moskau
marschieren.»24
Aber auch noch zwei Jahre später konnte man in die Kriegsgefangenschaft geraten, wie
zum Beispiel bei der missglĂĽckten Truppenlandung, die die Stadt Noworossijsk an der
SchwarzmeerkĂĽste von den Deutschen befreien sollte. Davon berichtet Wassili Pan-
tschenko :
«Das war schon in Februar 1943 […]. Und unsere Landungstruppe ist von den Deutschen
zerschlagen worden … Und wir wollten die unsrigen finden, und gingen um den ganzen No-
worossijsk herum … Und da hat mich eine Mine in die Luft gejagt. Zwei Kameraden waren
tot, die anderen leicht verwundet und mich hat es erwischt. Bis heute habe ich in den Beinen
diese Splitter. Ich konnte nicht mehr laufen. Und sie haben mich liegen gelassen. Und da
holten mich die Deutschen.»25
Einigen gefangenen Rotarmisten gelang es, von den Fußmärschen oder aus dem ersten
Sammellager zu fliehen, wenn sie nicht völlig erschöpft oder verletzt waren. Die Entflo-
22 AMM, MSDP, OH/ZP1/252, Interview Dubinin, Z. 144–157. Donezk hieß von 1924 bis 1961 Stalino.
23 Die unzähligen Aufnahmen der Kolonnen von sowjetischen Kriegsgefangenen in der deutschen Wo-
chenschau von 1941 geben (abgesehen von den rassistischen Darstellungen) doch eben diese Tragik und
Hoffnungslosigkeit wieder.
24 AMM, MSDP, OH/ZP1/034, Interview mit Wassili Nikolajewitsch Gontscharow, Interviewerin : Alena
Koslowa, Alexandrow, 20. 4. 2002, Übersetzung, Z. 25–34.
25 AMM, MSDP, OH/ZP1/641, Interview mit Wassili Afanasjewitsch Pantschenko, Interviewerin : Tatjana
Askeri, Taganrog, 15. 9. 2002, Transkript, Z. 86–98.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Deportiert nach Mauthausen
Volume 2
- Title
- Deportiert nach Mauthausen
- Volume
- 2
- Authors
- Gerhard Botz
- Alexander Prenninger
- Regina Fritz
- Editor
- Melanie Dejnega
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21216-4
- Size
- 16.8 x 23.7 cm
- Pages
- 716
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen