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(2020)Christine
Fürst | Die Wiener „Mahü“ rund um die Uhr
Sache des Erlebens.31 Die Akteure dieses Bewegungsraumes sind die Passantinnen und Passan-
ten, die Straßennutzerinnen und Straßennutzer, die im Strom der sich bewegenden Menge
untertauchen, um ihre Anonymität zu wahren. Die Anonymität übernimmt vor allem eine
Art Schutzfunktion für Menschen, die gesellschaftlich eher ausgegrenzt sind. Sie können sich
– sofern sie nicht sehr auffällig aus der Norm fallen und damit sichtbar werden – einigermaßen
ungezwungen im öffentlichen Raum aufhalten.32
Der Mittag wird zum Ort des Konsums, an dem Shopper und Bummler sich die Straße
aneignen und in Besitz nehmen. Indem der Blick von der Straße auf die Straße gewendet
wird, verändern sich die neu geschaffenen verkehrsberuhigten bzw. verkehrsentleerten Zonen
in einen Raum mit unüberschaubarem Menschengewimmel, denn Menschenmassen drängen
sich auf den breiten Gehsteigen durch die mit Pflastersteinen versehene vormalige Durchzugs-
straße. Hans, der vierzigjährige Fitnesstrainer, findet die Neugestaltung der Straße gut geplant
und gelungen, allerdings vermisse er das „Grün“, denn es seien zu wenig Bäume gepflanzt. Er
betont, dass die Pflasterung auf der sehr breiten Straße fad wirke und wiederholt: „[…] also ich
hätte mir gewünscht, einfach mehr Natur eingebracht zu sehen, mehr Bäume für Hunde zum
Pinkeln.“ Die Mariahilfer Straße sei aber vorzugsweise zu einer leistbaren Einkaufsstraße für
junge Leute geworden mit Trendshops im niedrigeren Preissegment im Vergleich zur Wiener
Kärntnerstraße, meint Hans weiter.33
Henri Lefebvre zufolge demonstriert die neokapitalistische Konsum-Organisation auf der
Straße ihre Herrschaft, denn die Anhäufung von Gegenständen begleite die Anhäufung von
Menschen, welche wiederum eine Folge der Anhäufung von Kapital sei.34 Um den „Konsum-
rausch“ bzw. die Freude am Konsum und die entsprechende Distinktion nicht zu unterbinden,
werden Obdachlose und bettelnde Menschen durch die angewiesenen staatlichen Ordnungs-
kräfte von diesen Zonen ferngehalten. Patrizia, die junge Mutter und Sales Managerin, stören
die vermeintlich Hilfesuchenden auf der „Mahü“ im Vergleich zu New York, wo diese dehu-
manisiert würden, nicht so sehr. Allerdings, fügt sie hinzu, sei es in Österreich nicht unbedingt
nötig, auf der Straße leben zu müssen.35 Die gesamtstädtische Bedeutung und kommerzielle
Funktion dieser Einkaufsstraße für viele Menschen stünde jedoch in einem Spannungsverhält-
nis zu den Ansprüchen der Menschen, die vor Ort wohnen.36
Der frühe Nachmittag auf der „Mahü“ steht für einen Familienort. Abseits von dem Ein-
kaufsgetümmel nutzen an sonnigen Sonn- und Feiertagen Wiener Familien die Straße als ihr
„öffentliches Wohnzimmer“. Anstelle des Shoppers hat jetzt der Flaneur Saison, was der Straße
gleichzeitig ein eigenartiges südliches Flair von Urlaub und Familie verleiht. Fast alle Sitzge-
legenheiten, und davon gibt es doch einige, sind von Eis schleckenden oder essenden Fami-
lienmitgliedern, von stillenden oder Windel wechselnden Frauen, von verliebten Paaren und/
oder rüstigen Senioren besetzt. Die Straßencafés sind randvoll mit plaudernden Menschen und
es gelingt kaum, einen freien Platz zu ergattern. Die ruhige angenehme Stimmung scheint
31 Vgl. J. Hasse: Die Atmosphäre einer Straße. S. 62.
32 Vgl. Sozialraumanalyse zur Mariahilfer Straße. S. 32. www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008225.
pdf (Zugriff: 02.02.2019).
33 Vgl. Interview Hans W., Fitnesstrainer, am 20.10.2018 in Wien.
34 Vgl. Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. Frankfurt am Main 1990, S. 27.
35 Vgl. Interview Patrizia, Sales Managerin, am 21.10.2018 in Wien.
36 Vgl. Spannungsverhältnis: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008225.pdf (Zugriff 22.01.2019).
>mcs_lab>
Mobile Culture Studies, Volume 1/2020
The Journal
- Title
- >mcs_lab>
- Subtitle
- Mobile Culture Studies
- Volume
- 1/2020
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 108
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal