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Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Joachim Schlör | Die Schiffsreise als Übergangserfahrung in Migrationsprozessen 15
Auch dabei denkt man unwillkürlich an das Mittelmeer von heute, auf dem ja in einer fast
absurd oder sogar zynisch anmutenden Gleichzeitigkeit neben den flüchtlingsbooten auch die
großen Kreuzfahrtschiffe und die Boote der Aussteiger, die sich damit eine unhäusliche zeit-
weilige heimat geschaffen haben, unterwegs sind. Aber es ist so: Die Schiffsreise als Zeit/Ort
der Reflexion kann in gleichem Maße für Verzweiflung wie für „Beglücktsein” stehen. für die
deutsch-jüdischen Auswanderer symbolisierte sie vor allem die Erkenntnis einer Zugehörigkeit,
die als neu und ungewohnt empfunden wurde. In den Reisenotizen, die Margarete Sallis an
ihre Mutter schickte, heißt es:
„Am Abend vorher war auf dem Schiff ein jüdisches Meeting, d. h. ein Empfang, den die
jüdischen Amerikaner den deutschen Juden gaben, Musik, Reden, in englisch, jiddisch,
hebräisch, deutsch. Seltsames Gefühl auf einem fahrenden Dampfer mitten im Ozean (im
Theater) gute Worte für die deutschen Juden zu hören. Und dann wir alle, wie wir da
waren, alles irgendwie im Aufbruch begriffene Menschen, die irgendwie zusammengehö-
ren.” 15
Während David Jünger in seiner Leipziger Dissertation die Schiffsreise als wichtiges Element
in einer allgemeineren Untersuchung zur Geschichte der jüdischen Auswanderung identifiziert
hat,16 beschäftigte sich Björn Siegel in hamburg mit einem konkreten Projekt: „Das Schiff als
Ort in der jüdischen Geschichte: Europäische Reedereien und die jüdische Emigration nach
Palästina in der Zwischenkriegszeit (1920-1938)”.17 Ihm geht es darum, neue Akzente in der
Migrationsforschung zu setzen und dabei die Materialität der Schiffe und die mit ihnen ver-
bundenen Aktivitäten genauer zu betrachten:
„Im Gegensatz zu den vorliegenden Studien bricht [das Projekt] die Perspektive des Woher
und Wohin bzw. die Analyse der Push-and-Pull faktoren auf und stellt stattdessen die
Migrationsprozesse selbst ins Zentrum der Untersuchung. Deswegen konzentriert es sich
vor allem auf fragen nach den Organisatoren und Strukturen, die die Migration bestimm-
ten. [...] Mit der fokussierung auf das Schiff als translokalen Ort und ganz eigenen, trans-
nationalen Raum soll es gelingen, die bisher dominierenden nationalen Geschichtsschrei-
bungen zu hinterfragen und die europäische Dimension in den Blick zu nehmen. Durch
diesen forschungsansatz rücken vor allem die Akteure bzw. Gestalter des Raumes ‘Schiff’
in den Mittelpunkt der Studie, d.h. die europäischen Reedereien und die zionistischen
Organisationen. Im Einzelnen wird nach ihren Motiven, Strategien und Aktionsspielräu-
men im Kontext der jüdischen Migrationsbewegung nach Palästina gefragt.” 18
15 Ebd.
16 Jünger, David. 2012. Vor dem Entscheidungsjahr. Jüdische Emigrationsfragen im nationalsozialistischen
Deutschland 1933-1938, Dissertation Universität Leipzig.
17 Siegel hat das Thema in weiteren Beiträgen vorgestellt: “The long way home: Arnold Bernstein’s changing Ger-
man-Jewish self-conception” (World congress of Jewish Studies, Jerusalem, 2013); “Eine besinnliche fahrt ins
Land der Juden: Konflikte jüdischer Repräsentanten während der Jungfernfahrt der S.S. Tel Aviv nach Palästina
(1935)” (Bar Ilan University, Israel, 2012); “A community within a community: Adolf Jellinek and Wissenschaft
des Judentums in habsburg Vienna” (European Association for Jewish Studies conference, Oxford, 2012).
18 Institut für die Geschichte der deutschen Juden, hamburg > forschungsprojekte: <http://www.igdj-hh.de/
forschungsprojekte-leser/zwischen-europa-und-palaestina-das-schiff-als-ort-in-der-juedischen-migrationsge-
schichte-19201938.html> [accessed 01.06.2015].
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal