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72 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2015
Ursula Feldkamp | Seereiseerfahrungen in zwei Bordtagebüchern des 19. Jahrhunderts
Nutzungsrechte am gemeinsamen Weideland ihrer Dörfer verloren und immer häufiger zur
Auswanderung gezwungen wurden.
Von ihrer Kajüte aus konnten die Schreibers die Zwischendeckspassagiere im wahrsten
Sinne des Wortes von oben herab beobachten. Auswanderer, die Kapitän homann als „deut-
sche Indianer“ bezeichnete, erschien ihnen widerwärtig, zumal ein „pestilenzartiger“ Geruch
aus der Luke des Zwischendecks zur Kajüte herüberwehte. So kann Ludwig im Tagebuch nicht
genug raten, dass jeder, der „einigermaßen auf Reinlichkeit und Bildung Ansprüche macht“,
nur in der Kajüte reisen und sich das Geld für die Überreise „vom Munde abdarben“ solle. (39)
Dabei lebten die Kajütenpassagiere auf Kosten der Zwischendeckspassagiere. Die Schreibers
und ihre vier Mitbewohner der Kajüte zahlten nämlich pro Person nur 70 Reichstaler für ihre
Überfahrt, weshalb die Reederei von den Passagieren der 1. Klasse nur einen kleinen dreistelli-
gen Betrag einnahm, während sie mit den 197 Zwischendeckspassagieren auf der „Goethe“ mit
35 Reichstalern pro Person den haupterlös erwirtschaftete. Überdies wird an Bord ein fragwür-
diger Umgang mit dem Eigentum der armen Auswanderer dokumentiert, indem zu Beginn
der Reise ihre holzschuhe von den Matrosen wegen des Lärmpegels, den sie verursachten, über
Bord geworfen wurden. (100/101)
Ludwig grenzt sich von anderen Auswanderern ab, indem er betont, dass er sich nicht, „wie
leider so Viele, großartige Ideen von Amerika (macht), nein! Wir wissen sehr gut daß nur durch
fleiß und anhaltender, ausdauernder Thätigkeit, das erlangt wird, worauf wir streben (…).“ (3)
Seit den 1840er Jahren waren gescheiterte Existenzen und Zwangsauswanderer immer wieder
in die Schlagzeilen amerikanischer und deutscher Zeitungen geraten.
Mit seiner Unterbringung auf der „Goethe“ zeigt sich Ludwig Schreiber sehr zufrieden und
schildert seinen Eltern genauestens die Einrichtungen des Schiffes:
„fanden unsere Erwartungen in hinsicht der Bequemlichkeit und Einrichtung des
fahrzeugs noch übertroffen; namentlich die cajüte ist ganz niedlich, und bleibt uns über-
haupt nichts zu wünschen übrig. (…) die Zahl der Passagiere beläuft sich auf 197 mit denen
in der cajüte reichlich 200 Stück, darunter sind im Raume aber 7 Säuglinge, und wohl
20 Kinder, eine Krabbeley sonder Gleichen. Mehrere aus der Gegend von Damme, hol-
ldorf und Steinfeld, sind wahre hottentotten; einige hessen und Baiern scheinen etwas
geschliffener zu sein. Die Bemannung des fahrzeugs besteht aus, capitain, Steuermann,
Untersteuermann oder Bootsmann, Steward oder Aufwärter der cajüte, der Koch, Schiff-
szimmermann, 11 Matrosen und 2 Jungens.
Das Schiff ist folgendermaßen eingerichtet: hinten am Schiffe hängt das Rettungsboot, im
Schiff selbst ist hinten auf der einen Seite oben auf, ein Kämmerchen mit Börden worauf,
farbe, Bindfaden, Schmiertöpfe usw. aufbewahrt sind, eine Treppe führt aus diesem in den
untern Raum, welcher als Vorrathskammer und Schlafstätte des Stewards dient (…). Von
einem schmalen Gang aus, der quer über das Schiff führt, geht die Kammer der Steuerleute ab,
„die Betten sind über einander; hierauf ist eine Thür wieder, durch welche man in einen Gang
tritt der von oben durch ein fenster erhellt, an beyden Seiten die Schlafstellen der cajütspassa-
giere hat, je zwey Betten über einander und eben so viel Raum, daß ein Waschtisch eben davor
stehen kann; man tritt durch eine Thüre in die cajüte, zwey große Spiegel gegen einander über
mit Goldrahmen; zwey mahagoni Sophas und zwey Tische eben so gestellt und befestigt, 6
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal