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Mobile Culture Studies. The Journal 1 2015
Ursula Feldkamp | Seereiseerfahrungen in zwei Bordtagebüchern des 19. Jahrhunderts 75
Dieses ewige Einerley, dies Schlaraffen-Leben, dies Sitzen und Stehen, mit einem Worte
ohne Beschäftigung zu sein, würde mir auf die Dauer nicht zusagen. hurrah! Dem Lan-
dleben.“ (75)
Doch die Zwischendeckspassagiere blieben ein Dorn im Auge des Kajütenpassagiers, und so
schildert Ludwig genüsslich, wie die frauen sich an Deck von „Einquartierung“, wie das Unge-
ziefer hieß, zu befreien suchen und die Schädlinge ins Meer warfen. Dabei war kein Teil des
Schiffes vor Schaben, Kakerlaken und Wanzen gefeit, wie zahlreiche Kommentare Reisender
von anderen Segelschiffen belegen.
caroline von Aschen zeigte sich freimütiger in ihren Aussagen zum Ungeziefer, indem sie z.
B. den Wanzenbefall auf dem Schiff und in Baltimore häufig anspricht.
„(…) dazu hatte ich die ganze Nacht schlaflos zugebracht wegen der Wanzen, die ich durch
eine nothwendige Umänderung der Bettstellen jetzt so fürchterlich habe, ich flüchtete end-
lich heraus und legte mich auf herrn Sch. sein canapé, der oben auf der Stube wo wir
schlafen, steht, aber theils bracht’ ich wohl im Kopfkissen und am Leibe selbst welche
mit, theils sind auch im Sopha sogar viele, wie ich die folgende Nacht, wo ich mich gleich
darauf legte erfuhr. – Ich campierte also auf der bloßen Erde, nahm keine Decke, kein Kis-
sen, nichts mit aus furcht Gesellschaft mitzunehmen, aber es half nichts; ich war einmal
so voll oder sie verfolgten mich, ich mußte mich nur kratzen, an Schlaf ward nicht weiter
gedacht.“ (64)
charlotte und Ludwig Schreiber hatten eine relativ gute Reise erlebt, die insgesamt 36 Tage dau-
erte, was eine gute Reisezeit darstellte. Ludwig konstatiert: „es ist Keiner gestorben, es ist „Keine
geboren, obwohl Letzteres doch wohl der fall wäre wenn wir länger an Bord blieben.“(115)
Geschlecht und Selbstwahrnehmung der Reisenden
Während Ludwig Schreiber seine Reise als Zäsur zwischen einer ausweglosen Vergangenheit
und einer aussichtsreichen Zukunft vorstellt, betrachtete caroline nur das vergangene Leben
als wünschenswert. Die Reise bedeutete ihr nichts als Gefahr und Amerika nichts als Warten
auf Rückkehr. Trost in ihrer verzweifelten Lage, ohne eine sinnvolle Perspektive in der fremde,
bot ihr nur die Vorstellung von einem Wiedersehen der Angehörigen nach dem Tode. Die
gegensätzliche haltung der beiden Reisenden ist zweifellos geschlechtsspezifisch bedingt, wie
zu Anfang dargelegt. hier der optimistische Ludwig auf dem Weg zu seinen Brüdern, die
eine Existenz in Amerika für ihn bereitet hatten, dort die in ihrem Sehnen nach den vertrau-
ten Schwestern rückwärtsgewandt erscheinende caroline auf dem Weg in die fremde, die ihr
nichts zu bieten schien als Einsamkeit. In ihrer Trauer wirkt sie dem Tode oft näher als dem
Leben. Dies illustriert auch ihr großzügiger Umgang mit ihrer Lebenszeit: „Ach, nur einmal
mit Euch dort hinaus in Wald und Busch, auf hügel und in Thäler, nicht wie jetzt bloß auf den
Garten sich einschränken! O, einige Jahre meines Lebens gäb ich dafür.“ (50)
Doch kam es ihr ebenso wenig wie charlotte Schreiber in den Sinn aufzubegehren. Gegen
wen auch? Schließlich ging es um nicht mehr und nicht weniger als um die persönliche Versor-
gung der beiden frauen, die durch ihre Reise nach Baltimore gewährleistet schien. Von ihnen
wurde nur Wohlverhalten und Gehorsam erwartet, den Männern gegenüber, die für sie die
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal