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76 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2015
Ursula Feldkamp | Seereiseerfahrungen in zwei Bordtagebüchern des 19. Jahrhunderts
Verantwortung trugen und für sie aufkamen. Eigene Erwerbsarbeit schickte sich nicht für sie.
Die Verinnerlichung dieser gesellschaftlichen Anschauungen war im 19. Jahrhundert die Waffe,
mit der die vollkommene Schicksalsergebenheit von frauen erzeugt wurde. Das zeigen die Auf-
zeichnungen von charlotte Schreiber und caroline von Aschen deutlich.
charlotte Schreiber zeigt große Dankbarkeit für die fürsorge der Eltern und Brüder. Ihre
Schreibkompetenz lässt auf eine Mädchenbildung schließen, die ihr die Eltern, vielleicht unter
großen Opfern, hatten zukommen lassen. charlotte lässt nirgends Besorgnis über die Zukunft
anklingen, zumal diese ja in der hand ihrer Brüder lag. So schildert sie im Bordtagebuch vor
allem Erlebnisse des Augenblicks. In ihren eingestreuten retrospektiven Betrachtungen über
Rituale der familie in Quakenbrück klingt fürsorge um die Eltern an, aber keine Reue über
die Auswanderung oder gar heimweh. Als endlich Land in Sicht kommt, ist charlotte von
freude erfüllt: „O! wie pocht das herz vor freude, wenn ich an das Wiedersehen denke.“ (142)
Auf caroline von Aschen hingegen warteten in der fremde keine vertrauten Personen.
In ihren Bordtagebüchern finden sich vor allem hinweise darauf, dass die frauen Konti-
nuitäten suchten. charlotte erinnerte heimatliche Rituale in brieflicher Kommunikation mit
ihren Eltern und stellte ihre Verbundenheit zu den Brüdern wieder her, und caroline stellte sich
dem Leben in der fremde nicht, sondern wartete, in Sehnsucht nach ihren Schwestern schwel-
gend, auf ihre Rückkehr in die heimat. Trotz ihres Aufenthalts in Baltimore auf unbestimmte
Zeit verspürte sie kein Interesse daran, Englisch zu lernen, jedenfalls ist im Tagebuch nie davon
die Rede. Diese haltung korrespondiert mit ihrem Desinteresse an ihrer neuen Umgebung in
Amerika und ihre bereits angesprochenen Distanz zu fremden Menschen.
caroline war dennoch bestrebt, in Gesellschaft zu gefallen, weil es sich für frauen ziemte.
Dies zeigt sich am deutlichsten in ihrem Ärger darüber, das Pianoforte nicht gut zu beherr-
schen, (…) da es noch manches gute sogar neue Pianoforte gibt, aber so wenige welche spielen.
Ich könnte mich recht gefällig dadurch machen (…).“ (51)
Diese Eigenschaft zeigt auch charlotte Schreiber, die mit dem Kapitän und ihrem Bruder
Karten spielte, obwohl sie offenbar selbst gar nichts daran finden konnte: „(…) ich stümperte
freilich dabey, doch denke ich Übung macht den Meister, ich werde es mehr thuen, weil der
captain es so gerne hat, auch verkürzt es die Zeit.“ (37)
charlotte fühlte sich auf der „Goethe“ offenbar als eine Grand Dame: „Ich wollte ihr lie-
ben Eltern sähet uns mal auf Augenblicke wie behaglich wir hier leben. (…) wir haben hier
immer zwey Gänge und ein gutes Gläschen Wein, welches vorzüglich bekömt. Des morgens
und Abends haben wir auch gewöhnlich fleisch, Beesteeck, Eyer. U.d.m.“ Es steht zu vermu-
ten, dass die Schreibers in der heimat sehr viel einfacher aßen, und so verwundert es nicht,
dass charlotte nach der Aufzählung einer Reihe guter Speisen, die sie genossen hat, sofort ihre
Differenz zu den Zwischendeckspassagieren konstruiert.
„Diesen Morgen hat der captain wieder den Aesculap gespielt, den in dem Zwischendeck
sind wieder viele Seekrank, (…) die andern bekamen nur die hälfte einen Tag und die
dicken Vollmondgesichter sind ganz kregel, und essen die doppelte Portion, müssen aber
am andern darauf büßen, wo der Magen den wieder auf eine unangenehme Weise über
Bord geleert wird.“
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal