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Mobile Culture Studies. The Journal 1 2015
Ursula Feldkamp | Seereiseerfahrungen in zwei Bordtagebüchern des 19. Jahrhunderts 77
charlotte Schreiber empfand aber auch Mitleid: „Einige frauen und Mädchen sind noch recht
krank sie dauern mich recht.“ (37) caroline von Aschen nahm auch in Baltimore wenig wahr,
was die Menschen um sie herum taten.
„Madam war oft ausgegangen, ich also sehr viel lange allein. Wo sollten denn meine
Gedanken wohl sonst so viel Beschäftigung finden als bei Euch, bei meinen entfernten Lie-
ben! Ich rief mit Gewalt den frohesten, das seligste Entzücken des Wiedersehens in meine
oft so wehmüthige Seele und drängte die Länge bis dahin ganz kurz zusammen.“ (69)
Gerade während der letzten Zeit ihres Aufenthalts in Baltimore spitzte sich carolines fixie-
rung auf ihre Schwestern noch einmal zu. Überdies erwähnt sie in ihrem Bordtagebuch nur
religiösen oder dramatischen, zu Tränen rührenden Lesestoff. So wird ein Gedicht erwähnt,
das caroline abschrieb und das den Titel trägt: „Nachruf der Entschlummerten – dem zurück-
gebliebenen Geliebten geweiht.“ Sie findet es „ trostvoll“ und fährt fort: „Ich wünsche in dem
Augenblick sehnlich, innig, es mit Euch lesen zu können.“ (19) Noch immer hielt sie die Trauer
um den verstorbenen Vater gefangen, begleitet von ihrem Wunsch, ebenfalls zu sterben. „Sollte
nicht der Vater im himmel bei dem dein irdischer Vater nun glücklich ist, auch dir noch einst
ruhiges Glück schenken oder – eine sanfte Ruhe des Grabes! Verzeiht mir dies letzte, es war ja
doch nichts unrechtes, daß ich mich auch ruhig in meinen Tod ergab, wenn mein himmlischer
freund so beschlossen hat?“ (19)
Ihre Bitte um Verzeihung deutet an, dass sich die Schwestern bereits um den Gemüts-
zustand carolines sorgten. Das fortwährende Sehnen nach dem Vergangenen und der Wie-
dervereinigung mit den Schwestern sowie die tendenzielle Todessehnsucht carolines, die im
Tagebuch immer wieder durchscheint, legen eine tiefgreifende psychische Störung der Autorin
nahe. Doch auch in Bremen konnte ihr das Wiedersehen mit ihren Schwestern bestenfalls eine
temporäre freude bieten, denn ihr selbst drohte eine arrangierte Ehe. Der Selbstbetrug ihrer
Schwärmerei für die Schwestern schien auch ihr zu dämmern, denn auf ihrer Rückreise nach
Bremen befielen caroline offenbar Zweifel über ihr Schicksal in Bremen: „Ja, nur an mir wird
es liegen ob ich glücklich oder unglücklich bin und Gott wird mich ja nicht so undankbar sein
lassen, seine große Güte nicht innig zu erkennen.“ (90/91) Wie schon auf der Reise versuchte
caroline allen an sie herangetragenen Anforderungen zu genügen, auch wenn diese sie zu zer-
brechen drohten.
Neben caroline von Aschen wirkt charlotte Schreiber erfrischend pragmatisch. Sie orien-
tierte sich an den gesellschaftlichen Maßstäben der Weiblichkeit im 19. Jahrhundert, ohne für
sich etwas anderes zu wünschen. Moralisches und sittlich korrektes Verhalten waren ihr obers-
tes Gebot, und so konnte sie mit ihrer „gebildeten“ Kajütenmitbewohnerin Louise Nölting
wenig anfangen, denn diese „kann raisonniren und dispotieren als ein herr und niemand kann
Worte dagegen bringen“. Daraus folgert charlotte: „das weibliche bescheiden Gemüth fehlt.“
(39) Sie hielt sich lieber an Julie Bode, deren „anspruchsloses bescheidenes Wesen“ ihr vertrauter
war. Es erschien ihr auch ganz natürlich, dass ihr um elf Jahre jüngerer Bruder Organisator der
Reise war, alle wichtigen Entscheidungen traf, und zwar nicht nur während der Reise, sondern
auch danach. Den Eltern hatte Ludwig versprechen müssen, gegenüber charlotte „seine Pflicht
zu thun.“ (59) Das patriarchalische Verhältnis der Geschwister untereinander offenbart sich klar
in ihren Aufzeichnungen.
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal