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88 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Sabine August | Schweizer auf dem Weg nach Amerika
und Unbeholfenheit, das heimweh und die Zweifel, die in der fremde aufkommen konnten.
hierfür bedurfte es weiterer fähigkeiten wie Durchhaltewillen, Beharrlichkeit, Geduld und
flexibilität, um die Annäherung an die neue Umgebung und schließlich – im besten fall – die
gelingende Integration in die neue heimat zu bewerkstelligen. Es blieb den Auswanderern –
und den wenigen Auswanderinnen zu jener Zeit – in der Regel auch gar nichts anderes übrig,
denn eine Rückkehr war mangels finanzieller Ressourcen zumeist nicht möglich.
Ent-Scheidung – Von Armut und Wehmut zur Glücksverheißung
Der Begriff Entscheidung – sowohl gegen etwas Altes als auch für etwas Neues – deutet eine
deutliche Grenzziehung an: Eine „Ent-Scheidung“ bedeutete im 19. Jahrhundert zumeist das
endgĂĽltige Scheiden von der familie, den Verwandten und freunden sowie die Trennung von
landschaftlichen Besonderheiten der heimat, vertrauten Orten, intensiven Erinnerungen und
Gewohnheiten. Es war sicherlich einer der schwersten und schmerzlichsten Momente. Wie
schwer es war, seine heimat zu verlassen, verdeutlichen zwei Aussagen, die eine von Johannes
Tobler 1737, der mit dem Pfarrer Bartholomeus ZuberbĂĽhler sowie rund weiteren 100 Personen
aus dem Appenzellerland nach South carolina auswanderte: «Ich hab s´ mir leichter gedacht.
herrgott, die Stund tut weh. Ungern verliert man die Mutter. Aber in der herzgrub wühlt´ s,
wenn einem vor den Augen die heimat stirbt.“ (Rusch 1935: 138); die andere von Samuel Mori,
einem Pfarrer, der 1885 seine heimat Bern verlieĂź und nach Kentucky auswanderte:
„Wie Ihr Euch gut vorstellen könnt, ist es ein ungemein ernster Entschluss, seine gute
Stelle, sein Besitzthum, seine langgewohnte und geliebte Stadt, seine schönen Berge und
vor Allem seine heimat zu verlassen, um wahrscheinlich nie mehr zurĂĽckzukehren, dann
eine beschwerliche Reise durchzumachen, zuletzt in ein Land gehen, wo alles anders ist. Es
braucht viel Muth und Entschlossenheit hiezu, aber noch mehr Gottvertrauen und Erge-
bung.“ (Samuel Mori 1885, in: Schelbert & Rappolt 2009: 216)
Auf der anderen Seite des Ozeans – im „gelobten Land“ – winkte die Erfüllung von Träumen
und die Realisierung von Zukunftsperspektiven. Nur die GlĂĽcksverheiĂźung und die imagi-
nierten Zukunftsvorstellungen lockten. Die neue heimat versprach eine neue Identität und die
chance, sich neu zu erfinden, etwas Neues zu schaffen, das Leben nach seinen persönlichen,
religiösen und politischen Vorstellungen zu gestalten mit beruflichem und sozialem Aufstieg
sowie größerem Ansehen. Durch die Sehnsucht nach einem besseren Leben sowie dem unbe-
schränkten Zugang zu Schulen und Bildungseinrichtungen, vor allem auch für ihre Kinder,
nahmen Auswanderungswillige die MĂĽhsal der Reise auf sich. Und so begann die Reise ins
Ungewisse mit wechselhaften GefĂĽhlen von Wehmut und Trauer, aber gleichzeitig auch mit
Zuversicht, hoffnung und freude in eine unbekannte Weltgegend.
Die Reise selbst, die nicht nur eine räumliche Überwindung von Ort A nach B darstellt,
sondern auch zeitlich andauert, ist ein realer Zwischenzustand, ein Ăśbergang von hinterlasse-
nem hin zum Imaginierten. fraglich ist jedoch, ob er als solcher erlebt wird. Durch die beson-
deren Umstände der Seereisen im 19. Jahrhundert war dies eher unwahrscheinlich, worauf ich
im folgenden detailliert eingehen werde.
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal