Page - 91 - in Mobile Culture Studies - The Journal, Volume 1/2015
Image of the Page - 91 -
Text of the Page - 91 -
Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Sabine August | Schweizer auf dem Weg nach Amerika 91
Die Seereise als Übergangserfahrung?
Bei der Auswanderung war die Überquerung des Atlantiks der wichtigste Reiseabschnitt auf
dem Weg nach Amerika. Bis zur Überfahrt und nach der Ankunft in Amerika konnten die Aus-
wanderungswilligen über die Teilaspekte der Reise noch selbst entscheiden wie beispielsweise
über den Agenten, die Reiseroute, das Transportmittel, die Etappenziele und die Übernach-
tungsorte. Auf der Atlantiküberfahrt gab es keine Entscheidungsfreiheit mehr. Dort konnten
die Auswanderer nur hoffen, dass die Reise normal verlief und alles gut ging. Denn bis Mitte
des 19. Jahrhunderts war die Überfahrt extrem strapaziös und lebensgefährlich. Die Segelschiffe
waren von Wind und Wetter abhängig und die Dauer der Überfahrt war unkalkulierbar. So
warnte „Der Kolonist“ 1853: „Eine Seereise ist keine Spazierfahrt, sondern eine Lebensfrage!“
(„Der Kolonist“ 1853, Nr. 25: 99)
Die Passagiere waren eine bunt zusammengewürfelte, nicht freiwillig zusammengekom-
mene Gesellschaft, bestehend aus Männern, frauen und Kindern aller Altersklassen, aus allen
sozialen Schichten, Berufsgruppen, Nationalitäten und Religionszugehörigkeiten. Sie reisten
in Gruppen und allein. Vor allem mussten sie auf engstem Raum über lange Zeit miteinander
auskommen. (Bretting, in hoerder & Knauf 1992: 106f) Ein weiterer Stressfaktor.
Dass vor allem die Seereise einen Zwischenzustand des Migrationsprozesses darstellt, ist
naheliegend. In der persönlichen Befindlichkeit wird dieser Zustand auch sicher als Zwischen-
den-Welten-sein erlebt, da der Aufenthalt auf einem Schiff kein dauerhafter Ort zum Leben
ist. Sicherlich sind sowohl das Schiff als auch das Meer jeweils als ein „Nicht-Ort“ im Sinne
Marc Augés (Augé 1994; 2012) zu bezeichnen. Seiner Definition zufolge ist normalerweise „ein
Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet [ist], so definiert ein Raum, der
keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen
Nicht-Ort.“ (Augé 1994: 92) Die Autorin Eveline hasler, die die Auswanderungsgeschichte von
50 Personen aus dem Bündnerland 1855 rund um den Lehrer und das Mitglied der Armenkom-
mission Thomas Davatz nacherzählt, erweckt seine Tagebuchaufzeichnungen zum Leben. In
einem ruhigen Moment erlebt Davatz ein unangenehmes Gefühl der Perspektivlosigkeit, den
ein solcher Nicht-Ort ausstrahlt:
„Auch vom Deck aus hatte Davatz an diesem Morgen das Meer nicht gesehen, das Schiff
schien steckengeblieben zu sein in wattigem Dunst. Verloren im Nicht-Ort. Auf dem wei-
ßen fleck zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das Auge findet keinen halt mehr; die
Imagination kann sich an nichts mehr entzünden. War es nicht vermessen gewesen, dem
Greif- und Sichtbaren den Rücken zu kehren?“ (hasler 1985: 23)
Das Schiff als Aufenthaltsort diente lediglich als Mittel zum Zweck, um von A nach B zu gelan-
gen. Die Reise markierte die Bewegungsrichtung von einem Ort der Unfreiheit, der Armut, der
Enge und des schmerzvollen Abschieds hin zu einem Ort der Sehnsucht, imaginiert als Ort
des besseren Lebens und einer glücklichen Zukunft. So war die damalige Seereise ein zeitlich
begrenzter Lebenszustand und das Schiff ein Übergangsort.
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal