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100 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
Sabine August | Schweizer auf dem Weg nach Amerika
Sicherlich verspürten viele eine große Sehnsucht, endlich das Glück verheißende „gelobte
Land“ erreichen zu wollen, wo sie sich eine gute berufliche Perspektive und Zukunft erträum-
ten, so wie es Eveline hasler im Roman beschreibt: „Rosina seufzt: „Wenn wir nur schon dort
[auf der Kaffeplantage Ibicaba in Südbrasilien] wären. Ich möchte meinen Kaffeeberg sehen,
die Palmen, meine Blockhütte“.“ (hasler 1985: 20)
Fazit
Die vorangegangenen Ausführungen dürften verdeutlicht haben, was die Passagiere – egal ob
Zwischendeck- oder Kajüten-Passagiere – bewegt hat, mit welchen Problemen sie zu kämpfen
und welche herausforderungen sie zu bewältigen hatten. Die Übergangserfahrung in form des
Erlebens von nicht-mehr-hier-sein und noch-nicht-am Sehnsuchtsort-angekommen-sein stellte
sich aufgrund der mir vorliegenden Reiseberichte weder unterwegs bis zum hafen noch auf der
Seereise ein. Wenn überhaupt, ist sie auf die Zeit davor zu datieren, nämlich zum Zeitpunkt
des Reiseaufbruchs, der Zäsur, beim konkreten ersten Schritt des Weggangs. Ab dem Moment
wird es ernst:
„Kurz vor Mitternacht dämmerte es mir. In den Tagen davor hatte ich Kisten gepackt,
mein Bankkonto aufgelöst, mich auf der Einwohnermeldekontrolle abgemeldet und die
Wohnung nochmals geputzt. Nun stand ich auf dem Bahnsteig vor dem Zug Basel-calais,
mit dem ich alles verlassen würde, was mir vertraut war. … Die fahrt ins Ungewisse, die
wir in dieser milden Juninacht begannen, war eine ganz und gar freiwillige. Dennoch fror
ich mit einem Mal. Ich konnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben, vor
allem aber: Es war unfassbar nicht mehr in Basel zu hause zu sein. … Als der Zug sich in
Bewegung setzte, schwappte das Entsetzen in mir hoch und löschte alle anderen Gefühle
aus.“ (Alioth 2014: 12)
Auch wenn es keiner lang andauernden Seereise nach Irland bedarf, liegt Alioths fokus nicht
auf der Übergangssituation ihrer Reise, sondern auf dem Moment des scheinbar endgültigen
Abschieds. Er scheint einem Todeserlebnis gleichzukommen, so wie es in der ethnologischen
Literatur zu Übergangsritualen beschrieben ist. (Arnold van Gennep 1986; Biasio & Münzer
1980; Müller 1987) Den Übergang selbst erwähnt Alioth (2014: 13) nur beiläufig: „Als ich wie-
der erwachte, fuhren wir durch Gemüsefelder, Dörfer aus grauen Steinhäusern; der Morgen
dämmerte. Später bestiegen wir eine fähre, dann wieder Züge, noch eine fähre, und irgend-
wann schien mir die Schweiz genauso unwirklich wie das Land, das vor mir lag.“ Diese kurze
Beschreibung des Übergangs ist wie in einen Nebel getaucht, in dem die Orientierung nicht
vorhanden ist und äußert sich bei Alioth als eine Art Totenstarre. Welche weiteren Emotionen
sie bezüglich ihrer Zukunft bewegten, erläutert sie in ihrem Vorwort zu den Schweizer Auswan-
derern aus sieben Jahrhunderten nicht.
Natürlich ist die Seereise der Auswanderer eine Übergangsphase. Sie kann entsprechend der
Definition von Übergangsriten nach van Gennep in drei Phasen unterteilt werden: In der Tren-
nungsphase verlassen die Auswanderer den alten Zustand, die heimat. In der Schwellen- bzw.
Umwandlungsphase befinden sie sich zwischen Altem und Neuem. In der Angliederungsphase
– in dem fall in der neuen heimat – findet die Reintegration statt.
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal