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Mobile Culture Studies.The Journal 1 2o15
David Jünger | Die Schiffspassage deutscher Juden nach Palästina 155
nun für viele zu einer beinahe metaphysischen Transzendenzerfahrung. Die Reisenden vertief-
ten sich in die großen fragen des Lebens, dachten nach über Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, über sich selbst und das Judentum, und nicht zuletzt über allgemeine fragen des
Seins.
Das Schiff kann dabei als idealer Ort derartiger Betrachtungen gelten, ist es doch die seit
Generationen wohl gebräuchlichste Metapher für das Leben überhaupt. Arthur Schopenhauers
Die Welt als Wille und Vorstellung mag hier als eines von vielen Beispielen dienen, in denen
die Metaphorik der Seefahrt Verwendung findet, um das Allgemeine des Lebens ansich zur
Anschauung zu bringen:
„Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten
Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt, mit
aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt dem
größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch näher kommt, ja
gerade auf ihn zusteuert, – dem Tode: dieser ist das endliche Ziel der mühsäligen fahrt und
für ihn schlimmer als alle Klippen, denen er auswich.“ 31
hans Blumenberg, der eine Theorie der Metapher bzw. eine Metaphorologie entwarf, hat dieses
Phänomen 1979 in seinem Werk Schiffbruch mit Zuschauer untersucht. Bereits auf der ersten
Seiten heißt es:
„Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die
Bewegung seines Daseins im ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der
gewagten Seefahrt zu begreifen. Das Repertoire dieser nautischen Daseinsmetaphorik ist
reichhaltig. Es gibt Küsten und Inseln, hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen
und Windstillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompaß und
astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen.“ 32
Ist das Schiff Metapher für das Leben, wundert es kaum, dass auf der Schiffspassage das Leben
zu sich selbst zu kommen schien. Die Reisenden waren nicht nur des unmittelbaren lebens-
weltlichen Alltags enthoben, sondern befanden sich auch in einer Sondersituation aus zeitlicher
Entschleunigung und räumlicher Entgrenzung. Auf dem Schiff kam der Alltag zum Erliegen,
man musste warten, bis die Überfahrt geschafft war, hatte Zeit nachzudenken und mit ande-
ren Passagieren ins Gespräch zu kommen. Um einen herum gab es nichts als das Schiff und
das Meer. Das Meer – hier das Mittelmeer – war dabei ein entgrenzter Raum, es lag zwischen
den Kontinenten Europa, Asien und Afrika, es wurde als Kulturscheide verstanden zwischen
Orient und Okzident und es war überdies exterritoriales Gebiet, frei von Staat und Nation –
diesen Elementen, die sich in den dreißiger Jahren derart aggressiv gegen die Juden gewendet
hatten. herkunft und Ziel waren somit nicht nur zwei unterschiedliche geographische Orte,
sondern auch verschiedene politische Räume, und mehr noch: verschiedene historische Zei-
ten. Deutschlands Sturz in die Barbarei des Nazismus wurde vielfach gleichgesetzt mit dem
31 Schopenhauer, Arthur. 1859. Die Welt als Wille und Vorstellung, dritte, verb. u. betr. verm. Auflage, Band 1
(Leipzig: Brockhaus), 369. Ich danke Alexandra Schauer für den hinweis.
32 Blumenberg, hans. 1979. Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmethapher (frankfurt a. M.:
Suhrkamp), 9. Ich danke Sebastian Tränkle für den hinweis.
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal