Page - 160 - in Mobile Culture Studies - The Journal, Volume 1/2015
Image of the Page - 160 -
Text of the Page - 160 -
160 Mobile Culture Studies. The Journal 1 2o15
David Jünger | Die Schiffspassage deutscher Juden nach Palästina
diesem Lande erfahren.“45
Noch kannte Lene Michael die Wirklichkeit Palästinas also nicht. Sie war jedoch auf dem Weg,
sich diese anzueignen. Davor lag die Schiffspassage über das Mittelmeer – eine Reise, die Lene
Michael genauso in ihren Bann zog wie Gabriele Tergit, heinemann Stern, helga bzw. hagar,
Manfred Sturmann, Martin hauser, Paul Mühsam oder Willy cohn. Das Mittelmeer war
dabei jener entgrenzte und entschleunigte Ort, der einem beinahe unwirklichen Mikrokosmos
glich.
Die Bedeutung dieses Raums scheint in einer kurzen Passage in Ein Schiff unterwegs auf,
als sich der Passagier Jeanne an Lene wendet und nachdenklich sagt:
„Vielleicht sollte man wünschen, das Schiff änderte seinen Kurs und setzte uns auf irgendeine
unentdeckte Insel ab, die es gar nicht gibt, wo man keine Einwanderungsbestimmungen
kennt und kein Staatsvolk, wo man nicht zur Minderheit gehört, es ist ein furchtbares
Schicksal, überall zur Minderheit zu gehören, wo man sich einfach hinsetzt und da ist,
einfach da ist, weiter nichts!“ 46
In dieser Passage kommt die ganze Tragik jüdischer Existenz der dreißiger Jahre zum Vor-
schein. Denn nicht nur wurden Juden in Deutschland unterdrückt, auch in anderen Ländern,
wie Österreich, Polen, Litauen, Lettland oder Rumänien verschlechterte sich die jüdische Situa-
tion im Verlauf der dreißiger Jahre auf dramatische Weise. 47 Während aus diesen Ländern die
Juden hinausgedrängt wurden, fehlte es zunehmend an Möglichkeiten der Einwanderung –
jenes Elements, das in der Vergangenheit immer wieder für Entlastung der jüdischen Positionen
gesorgt hatte. In einem Bonmot jener Zeit hieß es, dass „die Welt vom jüdischen Standpunkt
heute in zwei Kategorien von Ländern zerfällt, nämlich in solche, aus denen die Juden auswan-
dern müssen und in solche, in die sie nicht einwandern können.“ 48
Nicht nur die Situation in Deutschland war also prekär, sondern die globale Situation von
Millionen Juden. Mitte der dreißiger Jahre konnte man in der deutsch-jüdischen Presse sogar
wiederholt die Einschätzung lesen, die Lage der Juden Osteuropas sei katastrophaler als die der
deutschen. Beispielhaft zeichnete im Mai 1937 Kurt Löwenstein in der Jüdischen Rundschau
ein düsteres Szenario: „Zugleich aber wächst die Sorge in den jüdischen Gassen der Länder
Ost- und Mitteleuropas, in denen die Masse des jüdischen Volkes zu hause ist, die Not pocht
an die Pforten und das Gespenst der Vernichtung geht um.“ Auch wenn die deutschen Juden
unter „besonders prägnanten“ politischen Bedingungen leben müssten, sei „die Not der Juden
in sozial-wirtschaftlicher hinsicht in einigen Ländern des Ostens noch weit größer.“ 49
Die Situation war also dramatisch, es war eine „Katastrophe vor der Katastrophe“, wie Dan
Diner es nannte, als Juden aus den Ländern Mittel-, Süd- und Osteuropas gedrängt wurden,
aber fast nirgendwo Aufnahme fanden. 50 Dem Antisemitismus zu entfliehen, so meinte han-
45 Ebd., 51.
46 Ebd., 28.
47 Mendelsohn, Ezra. 1983. The Jews of East Central Europe between the World Wars (Bloomington: Indiana Uni-
versity Press).
48 Arlosoroff, chaim. 1933. ‚Was kann Palästina den deutschen Juden bieten?‘, Jüdische Rundschau, 23. Mai 1933.
49 Löwenstein, Kurt. 1937. ‚“Leben, nichts als leben!“‘, Jüdische Rundschau, 21. Mai 1937.
50 Diner, Dan. 1993. ‚Die Katastrophe vor der Katastrophe. Auswanderung ohne Einwanderung‘, in: Dirk Blasius
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 1/2015
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 1/2015
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 216
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal