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100 Mobile Culture Studies. The Journal 2 2o16
Arthur Depner, Simon Goebel | Rede Macht Asylpolitik
Inhaltlich – darauf verweist der Kontext in Kauders Rede – geht es um eine finanzielle Unter-
stützung der Geflüchteten in den Flüchtlingslagern um Syrien. Dies würde bedeuten, dass
Fluchtursachen verschiedenen Fluchtphasen zugeordnet werden könnten. Die Fluchtphase 1
wäre in diesem Verständnis die Flucht einer Person etwa aus Syrien in ein räumlich nahe an
Syrien gelegenes Flüchtlingslager (Fluchtursache: (Bürger-)Krieg). Fluchtphase 2 bestünde in
der Flucht dieser Person aus einem Flüchtlingslager in eine entferntere Region (Fluchtursache:
Armut, Hunger, Perspektivlosigkeit). Diese Differenzierung wäre ein interessanter Ausgangs-
punkt für eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit respektive Trostlosigkeit von Flüchtlings-
lagern. Kauder geht es jedoch darum zu zeigen, dass die Zahlen an Geflüchteten, die nach
Europa und Deutschland kommen, kurzfristig über eine bessere Versorgungssituation in den
Flüchtlingslagern gesenkt werden könnten und müssten. Er fokussiert entsprechend Flucht-
phase 2.
Gegen Fluchtursachen vorzugehen ist freilich eine Forderung, gegen die wohl kein Mensch
argumentieren würde. Doch wie auch Kauders Aussage bezeugt, können dahinter vollkommen
divergente Motivationen stehen. Entsprechend wird die formal gleichlautende Forderung auch
von Seiten sich widerstreitender politischer Positionen artikuliert. So kann die Bekämpfung der
Fluchtursachen gefordert werden, um das Leid von Geflüchteten zu verhindern, das sowohl in
den Fluchtursachen selbst (Bürgerkrieg, Krieg, Armut etc.) als auch in der gefahrvollen Flucht
und dem meist prekären Leben im Ankunftsland besteht. Sie kann auch aus flüchtlingsfeindli-
cher Perspektive gefordert werden, um die Anwesenheit Geflüchteter in einer exklusiv gedach-
ten Gesellschaft zu vermeiden. Um die Bedeutung der Metapher „Fluchtursachen bekämpfen“
zu verstehen, muss demnach auch der politische Hintergrund der äußernden Person mit einbe-
zogen werden.
In den vorliegenden Bundestagsreden sind zwei Perspektiven zu konstatieren, davon jene
der Regierungsvertreter_innen (CDU, SPD) und jene der Oppositionspolitiker_innen (Grüne,
Linke). Die Bundeskanzlerin Angela Merkel beispielsweise äußerte sich in einer Regierungser-
klärung am 25.11.2015 wie folgt:
„Beginnen müssen wir bei der Bekämpfung der Fluchtursachen. Es herrscht in vielen
Regionen Krieg und Terror. Staaten zerfallen. Viele Jahre haben wir es gelesen. Wir haben es
gehört. Wir haben es im Fernsehen gesehen. Aber wir haben damals noch nicht ausreichend
verstanden, dass das, was in Aleppo und Mossul passiert, für Essen oder Stuttgart relevant
sein kann.“ (Merkel, Bundestagsrede am 25.11.2015)
Mit dieser Erklärung, warum „wir“ die Fluchtursachen bekämpfen müssen, zeigt Merkel deut-
lich die dahinterstehende Motivation. Demnach geht es nicht in erster Linie um die Umstände,
die Menschen zur Flucht treiben, sondern vielmehr um den Zielort der Flucht. Erst mit der
Reduktion der räumlichen Distanz der unter den „Fluchtursachen“ leidenden Menschen zum
„eigenen“ Territorium, scheint die Bekämpfung dieser Ursachen relevant zu werden. Ziel dieser
„Bekämpfung“ ist also in diesem Sinne die Aufrechterhaltung der räumlichen Distanz, um eine
Verringerung der Asylantragszahlen in Deutschland zu erreichen. Ein Verständnis Geflüch-
teter als Belastung für die deutsche Bevölkerung kann eine solche Aussage begründen. Essen
und Stuttgart sind Städte, in denen im bundesdeutschen Vergleich überdurchschnittlich viele
Migrant_innen leben. Merkels Aussage gründet somit auf einer Perspektive, die Migration als
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 2/2016
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 2/2016
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 168
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal