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120 Mobile Culture Studies. The Journal 2 2o16
Christine Egger | Mobile World Passau
Die Macht des Lokalen. Migration in der Mittelstadt
Was sich in Niederbayern seit dem Sommer 2015 beobachten ließ, diagnostizierten der Anthro-
pologe Ulf Hannerz und andere zu Beginn der 1990er Jahre vor allem für westliche Groß-
städte wie New York oder London (Hannerz 1993, 67-69): Die Stadt ist ein Ort, an dem die
unterschiedlichsten Menschen aufeinandertreffen. Mit den jüngsten Flucht- und Migrations-
bewegungen nach Westeuropa und Deutschland wurden aber insbesondere die kleinen und
mittleren Städte, in denen weit über die Hälfte der deutschen Bevölkerung lebt, zu wichtigen
Schnittstellen und Knotenpunkten. Das galt auch und gerade für Passau, das mit seinen rund
50.000 Einwohner_innen, seiner geopolitischen und soziokulturellen Bedeutung als Grenzort
und regionales Zentrum sowie seinem spezifischen Habitus alle Kennzeichen einer „Mittel-
stadt“ aufweist. „Verglichen mit Großstädten lässt sich in der Mittelstadt ein weitaus höheres
Maß an Überschaubarkeit, direkter Kommunikation und Verbindlichkeit feststellen und ent-
sprechend eine geringere Öffentlichkeit und Anonymität“, unter diesen, von der Kulturwis-
senschaftlerin Brigitta Schmidt-Lauber skizzierten Bedingungen wird im urbanen Alltag von
Passau jenseits der Metropolen München und Berlin seit dem Sommer 2015 verhandelt, was das
Zusammenleben in der Stadtgesellschaft künftig ausmacht (Schmidt-Lauber 2010, 20; 11-25,
Lindner 2013, Egger 2013, 55-57).
Der niederbayerische Künstler Rudolf Klaffenböck machte sich in den 1970er und 1980er
Jahren als politischer Kabarettist einen Namen. Seit einigen Jahren arbeitet er vor allem als
Fotograf und Dokumentarfilmer, für den die österreichische Grenze bereits unmittelbar nach
dem Fall des Eisernen Vorhangs ein wichtiges Thema war. Im Sommer 2015 begleitete er die
Akteur_innen der neuen Mobilitäten in Passau und der Region und hielt ihre Spuren mit
dem Objektiv seiner Kamera fest (Klaffenböck 1994-1996; 2015a). Zu den Motiven seiner Suche
gehörten auch Schleuserfahrzeuge, die an der Grenze zu Österreich von der Polizei beschlag-
nahmt worden waren. Die beklemmenden Bilder wurden 2016 zusammen mit einem Interview,
das die Philosophin Seyla Benhabib zum Thema Migration und Nationalismus gab, im Maga-
zin der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht und sollten, wie der Fotograf meinte, einen Film im
Kopf ihrer Betrachter_innen anspringen lassen (Klaffenböck 2015b, Kops 2016). Wer jedoch
nicht so genau hinschaute wie Klaffenböck, wird auch im „grenzenlos lebenswerten“ Passau
wenig von den Flucht- und Migrationsbewegungen mitbekommen haben. Und doch verliehen
eben diese Verschiebungen der relativ ausgeglichenen Gesellschaft der im Alltag wenig beweg-
ten Mittelstadt am Rande Deutschlands neue Dynamiken (Stadt Passau 2016; Rammer 2009).
Ein Blick in die neuere Geschichte Passaus zeigt die starken bürgerlichen Traditionen der
Stadt, die im 19. Jahrhundert eine große Blüte erlebten (Brunner u.a. 2014). Vor diesem histori-
schen Hintergrund vollbrachte der südostbayerische Grenzort im Verlauf des 20. Jahrhunderts
enorme Anpassungsleistungen. Dazu gehörte die Aufnahme tausender Vertriebener aus Tsche-
chien, Ost- und Südosteuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in kleinerem Umfang
auch von Flüchtenden in Folge des Ungarnaufstands von 1956. Mit dem Mauerbau kamen
Menschen aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) über die Grenze und noch
einmal 1989, es folgten in den 1990er Jahren Spätaussiedler_innen aus der ehemaligen Sowje-
tunion (Weithmann 2014, 110-142, Becker 1999, Haus der Bayerischen Geschichte 2009, Lan-
zinner 1999a, Lanzinner 1999b, Brunner 2009). Spuren der Ankommenden lassen sich auch im
Stadtraum festmachen, was am Beispiel des Ortsteils Schalding rechts der Donau besonders
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 2/2016
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 2/2016
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 168
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal