Page - 122 - in Mobile Culture Studies - The Journal, Volume 2/2016
Image of the Page - 122 -
Text of the Page - 122 -
122 Mobile Culture Studies. The Journal 2 2o16
Christine Egger | Mobile World Passau
Mobile World Passau. Akteurinnen und Akteure, Beziehungen und Netzwerke
Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen ließ sich seit dem Sommer 2015 in Passau
empirisch erfahren (Berking 2006). Seit der Ankunft von hunderttausenden Geflüchteten an
den nahe gelegenen Grenzübergängen zwischen Deutschland und Österreich und am Haupt-
bahnhof der Stadt ragten Aleppo, Damaskus, Quamischli, Homs, Kabul, Kunduz und Bagdad
so tief nach Niederbayern hinein wie nie zuvor. „Jetzt da sich die Welt neu ordnet, nimmt auch
in Passau manches Leben einen anderen Verlauf. In der Stadt werden dringend Dolmetscher
gesucht. Menschen, die Dari oder Paschtu sprechen und bislang Büros putzten oder Kebab ver-
kauften, werden plötzlich zu Vermittlern, Welterklärern, Alltagsdiplomaten“ (Coen und Suße-
bach 2016). Das galt allerdings für viele Passauer_innen, nicht nur für die in die Stadt Geflüch-
teten. Ulf Hannerz (1993, 69-74) betrachtet vier Gruppen von Menschen und deren lokale
wie transnationale Beziehungen und Netzwerke als konstitutiv für die kulturelle Bedeutung
moderner Weltstädte: Geschäftsleute, Migrant_innen aus Ländern der so genannten „Dritten
Welt“, Kreative und Wissensarbeiter_innen sowie Tourist_innen. In der Mittelstadt Passau las-
sen sich – angelehnt an Hannerz‘ Einteilung – ebenfalls vier soziale Kategorien ausmachen, die
für die andauernde Transformation der urbanen Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen:
Bürger_innen und Geschäftsleute mit und ohne Migrationshintergrund, Studierende und Mit-
arbeiter_innen der Universität sowie der Oberbürgermeister.
„Hier in Niederbayern gibt es kein Meer, höchstens ein Meer aus Feldern. (...) Fanta-
sie ist dem satten und dennoch eigentümlich kargen Landstrich zwischen Donau und Isar
nicht eingeschrieben. Hier herrscht die Ökonomie des Praktischen und Vernünftigen“, sagt
der Journalist Gerhard Matzig (2015) über die Region. Mit Pragmatismus kommentierte auch
Jürgen Dupper die Situation, als Passau im September 2015 zum Drehkreuz der Flucht- und
Migrationsbewegungen nach Westeuropa wurde (Coen und Sußebach 2016, Issig 2015). Der
sozialdemokratische Kommunalpolitiker fühlte sich an das Jahr 1989 erinnert, als tausende
DDR-Bürger_innen über Ungarn nach Niederbayern kamen, wo sie in „Übergangsheimen“
untergebracht wurden (Karl 2016, Georg-von-Vollmar-Akademie 2016). Vor dem Hintergrund
seiner Erfahrungen bei der Hochwasserkatastrophe von 2013, bei der bereits viele Bürger_innen,
Studierende und Mitarbeiter_innen der Universität mithalfen, um die verheerenden Schäden
in der Stadt in einer absoluten Ausnahmesituation zu beseitigen, war er sich aber sicher: „Wir
können Krise“ (Guyton 2015). Mit dieser Haltung schien der Oberbürgermeister von Passau
wichtige Qualitäten, die nicht nur seiner Heimatregion, sondern nach der Definition des Kul-
turwissenschaftlers Rolf Lindner auch der Mittelstadt und ihrem Habitus zugeschrieben wer-
den, in seiner Person zu vereinen: Maß, Mitte und praktische Vernunft. „Vielleicht können
wir in dieser Erdung eine generelle differentia specifica des mittelstädtischen Lebens gegenüber
der Metropole sehen. Erdung, Bodenhaftung, das meint ja nicht nur die Vermeidung eines
die Verbindung zur materiellen Welt verlierenden Abhebens, sondern verweist auch auf das
Gefühl von Zugehörigkeit als ‚sozialem Anker‘ in Zeiten von Globalisierung und beschleunig-
tem Wandel“ (Lindner 2010, 43).
Als weitere wichtige Merkmale der Mittelstadt gelten eine starke Identifikation mit dem
Gemeinwesen und Bürgersinn. Beides stellten die Passauer_innen unter Beweis, die ab August
2015 die Unterstützung für die Ankommenden organisierten. Dazu nutzten sie die unkompli-
zierten Möglichkeiten der informellen Vernetzung in ihrer überschaubaren Stadt (Eckl 2016,
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 2/2016
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 2/2016
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 168
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal