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Mobile Culture Studies. The Journal 6 2o20 (Travel)
de Almeida, Müller, Wimplinger | Die Linke schaut nach Portugal 67
ab[hakt], was an der Netzhaut an Begriffen hängen bleibt“ (Frey 1976: 8). Ein feinmaschi-
ges Wahrnehmungsraster ist gefragt, das auch Widersprüchliches und begrifflich noch nicht
Fassbares aufnimmt und unverfälscht nach Hause trägt, um es in die theoretischen Auseinan-
dersetzungen einfließen zu lassen. Ausdruck dessen ist beispielsweise der Satz der Schriftstelle-
rin Helga M. Novak, die 1975 in der landwirtschaftlichen Kooperative Torre Bela in Portugal
lebte: „Nie habe ich so gründlich einen Olivenbaum betrachtet“ (Novak 1976: 40).8 Wer nur
wahrnimmt, was seine theoretischen Vorannahmen stützt, ist am Ort des gesellschaftlichen
Umbruchs auf verlorenem Posten. Weitere Schriftsteller, die nach Portugal reisten — manche
in Solidaritätsaktionen —, sind Hans Magnus Enzensberger, Alfred Andersch, Heinrich Böll,
Günter Wallraff, Thomas Bernhard, Hubert Fichte, Peter Weiss, Horst Karasek und der marxi-
stische Ökonom Ernest Mandel. Als Günter Wallraff und Franz Xaver Kroetz die Einweihung
der landwirtschaftlichen Kooperative União faz a Força (Einigkeit macht stark) besuchten,
diente eine solche Solidaritätsaktion klar dem Zweck einer nationalen Repräsentation.9 Hein-
rich Böll zeigte sich strikt für nationale Zuschreibungen unzugänglich und kam aus eigenem
Interesse.10 Thomas Bernhard machte Urlaub.
Die Portugiesischen Tagebücher des damaligen Direktors des Lissabonner Goethe-Instituts,
Curt Meyer-Clason, enthalten immer wieder aufschlussreiche Einblicke in die bundesdeutsch-
portugiesischen Beziehungen vor und nach der Nelkenrevolution.11 Der renommierte Übersetzer
verwandelte das Deutsche Institut in einen Umschlagplatz der Ideen, an dem sich westdeutsche
Linke und die Intellektuellen des portugiesischen Widerstands, vor allem Schriftsteller*innen
und Theaterdirektoren, trafen. Um noch während des Regimes unliebsame Autor*innen einzu-
laden, setzte Meyer-Clason das Gewicht des Instituts sowie seinen sicheren Status als deutscher
Staatsbürger strategisch ein, um die Grenzen der portugiesischen Zensur auszuloten. Hier-
durch öffneten sich außergewöhnliche Lücken, die Theaterinszenierungen und Konferenzen
im Institut erlaubten, die anderswo in Portugal undenkbar gewesen wären. Aufgrund dessen
stand Meyer-Clason oft in Konflikt mit der bundesdeutschen Botschaft (Meyer-Clason 1997:
72, 76, 88), die die portugiesische Diktatur sowie die ökonomischen Beziehungen zwischen
den beiden Ländern unterstützte (Meyer-Clason 1997: 12, 188, 198). Er verfolgte außerdem die
Strategie, portugiesische Regimegegner durch die Beschaffung von Publikationsmöglichkeiten in
Westdeutschland vor staatlicher Verfolgung zu schützen, und er vermutete, dass die Bereitstellung
der Institutsräumlichkeiten zum sicheren Austausch von politischen und künstlerischen Positionen
8 Der Olivenbaum ist neben dem Eukalyptus- und Korkbaum jene Pflanze, anhand der die Autorin die wirt-
schaftliche Krise der Landarbeiter*innen erzählt.
9 Die Kooperative eröffnete mit Hilfe von Spendengeldern aus der BRD, die das zur Eröffnung geladene Deutsche
Solidaritätskomitee gesammelt hatte (vgl. Meyer-Clason 1997: 316f).
10 In einem offenen Brief an den bundesdeutschen Außerminister weigerte sich Böll, die Bundesrepublik im Aus-
land zu vertreten, „solange Hexenjagd auf Künstler wie Staeck gemacht wird“ (Meyer-Clason 1997: 303).
11 Eine Anekdote fasst die politischen Vorsichtsmaßnahmen Westdeutschlands gegenüber der Tätigkeit Curt
Meyer-Clason gut zusammen: Bei der Übergabe der Direktion an Curt Meyer-Clason meinte sein Vorgänger:
“Bitte keinen Spiegel, keine progressive Literatur, keine Edition Suhrkamp, schon gar keine marxistische Lite-
ratur. Verwahren Sie Brecht und Grass unter Verschluß und leihen Sie dergleichen nur privat aus, auf Anforde-
rung” (Meyer-Clason 1997: 20).
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Mobile Culture Studies, Volume 2/2020
The Journal
- Title
- >mcs_lab>
- Subtitle
- Mobile Culture Studies
- Volume
- 2/2020
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal