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de Almeida, Müller, Wimplinger | Die Linke schaut nach Portugal
Flucht antrafen und interviewten, ergriff das Team kurzerhand die Möglichkeit, die Besetzung
Torre Belas anstelle der Soldatenräte in Lissabon zum Gegenstand ihres Filmes zu erklären (vgl.
Hübner 2006: 00:13:50).
Die Entstehung von Harlans erstem eigenen Film war eine direkte Reaktion auf die in
Ribatejo vorgefundene Situation. Der Verzicht auf ein ordnendes und beschreibendes Voiceo-
ver und der fehlende Rückgriff auf Archivmaterial oder TV-Bilder von anderen Schauplätzen
der Revolution in Portugal geben dem Ereignis der Besetzung eine Gegenwärtigkeit, die einer
gewissen Unüberschaubarkeit des komplexen historischen Veränderungsprozesses in Portugal
entspricht. Die Journalistin Alexandra Lucas Coelho stellt diese Besonderheit im Unterschied
zu anderen Filmen über die Nelkenrevolution heraus:
All the contradictions that were being lived within the actual group are present in the film and are
not subjugated by a discourse that tries to immediately interpret or read what was happening. That
gave the film a timeless and universal quality, which many films shot at that time lack. (Coelho
2007, nach Costa 2011: 106)
Daher rührt auch die besondere Bedeutung, die Torre Bela als Dokument der Revolutionszeit
insbesondere in Portugal zukommt. José Filipe Costas 2011 erschienener Film Linha Vermelha
(PT 2011, R.: José Filipe Costa) untersucht, wie sich Torre Bela in die kollektive Erinnerung
Portugals einschreibt.29 Im Dialog mit dem Originalmaterial Harlans versucht Costa außerdem
zu klären, was die Revolution für Portugal in den späten Nuller-Jahren bedeutete, als das Land
unter den Folgen der Finanzkrise 2008 litt (vgl. Ribeiro de Menezes 2015: 65). In Anbetracht der
Krisenrealität verwundert es nicht, dass Harlans Film nach wie vor als ein Dokument für die
Euphorie der portugiesischen Revolution verstanden wird (vgl. Costa 2011: 105).
Torre Bela erzeugt in seinem chaotischen Gewirr der sich immer wieder unterbrechenden
und ins Wort fallenden Protagonist*innen eine Intensität, in der sich das politische Verlangen nie
einstimmig formuliert. Als Sammlung von Momentaufnahmen weist der Film zunächst keine
klassische dokumentarische Form auf. Durch die dreimonatige Anwesenheit des Filmteams
war es möglich, die Besetzung in ihrem Alltag über einen längeren Zeitraum hinweg festzuhal-
ten (vgl. Costa 2011: 109). Dieser Zeitraum zusammen mit einem mangelnden „Wertgefühl [der
Gefilmten] für [ihr] Bild“, so Harlan, führten dazu, dass sich die Besetzer*innen an die Präsenz
der Kamera gewöhnten und das Filmteam akzeptierten (vgl. Hübner 2006: 00:16:50). Sieht
man von den beiden Eingangssequenzen ab, die anhand der Prächtigkeit des Landgutes und
der Arroganz des Herzogs das vorherrschende Ungerechtigkeitsgefühl der Landbevölkerung
vermitteln, fehlt dem Film eine argumentative Logik, die für die zuvor besprochenen Filme
charakteristisch ist. Die Diskussionen der Protagonist*innen verdeutlichen vielmehr die Pro-
bleme und das einander Widersprechen auf dem Weg zu gemeinsamen Entscheidungen über
Besitz, Arbeit und Teilhabe in einer Kooperative. Wo der Film sein Publikum nicht überzeugen
will, dekonstruiert er den politischen Prozess. Wo er sein Publikum nicht mit den Zielen der Kooperative
29 Einen ähnlichen Versuch, die mediale Repräsentation der Nelkenrevolution zu untersuchen, unternahm auch
schon der portugiesisch-französisch-brasilianische Regisseur Sérgio Tréfaut in seinem Film Outro País: Memór-
ias, Sonhos, Ilusões Portugal 1974/1975 (PT 2000, R.: Sérgio Tréfaut). Der Film diskutiert anhand von Archiv-
aufnahmen, Ausschnitten aus verschiedenen Dokumentationen über die Nelkenrevolution sowie Interviews mit
Thomas Harlan, dem brasilianischen Regisseur Glauber Rocha, aber auch Robert Kramer, welche Erwartungen
und Eindrücke ausländische Filmemacher*innen und Journalist*innen von der Revolutionszeit hatten.
>mcs_lab>
Mobile Culture Studies, Volume 2/2020
The Journal
- Title
- >mcs_lab>
- Subtitle
- Mobile Culture Studies
- Volume
- 2/2020
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal