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Mobile Culture Studies. The Journal 6 2o20 (Travel)
de Almeida, Müller, Wimplinger | Die Linke schaut nach Portugal 77
solidarisieren will, gewinnt er Militanz: filmisches Handeln, das die Kooperative vorantreibt.
Durch dieses Vorantreiben des Geschehens zeigt sich hinter der Kamera, dass Konstruk-
tion und Inszenierung aufgrund der Teilhabe des Filmteams ein maßgeblicher Aspekt von
Torre Bela sind. Der französische Filmkritiker Serge Daney schrieb begleitend zu einem 1977
geführten Interview mit Harlan und in Anlehnung an die Terminologie Lévi Strauss‘, dass sich
in Torre Bela die zwei Modi des Dokumentarischen, das „Rohe“ (die Wirklichkeit) und das
„Gekochte“ (die Fiktion), ergänzen (vgl. Daney 1977b: 43).
Auch 30 Jahre nach Entstehen des Films beurteilt Thomas Harlan Torre Bela als einen
Gegenentwurf zu herkömmlichen Dokumentationen. Dieser Unterschied entsteht für ihn
gerade durch die Präsenz und Teilhabe des Filmteams an der Besetzung. Denn neben dem
Filmen alltäglicher Prozesse der Kooperative half Harlan auch bei der Bewältigung organi-
satorischer Probleme. Das Filmteam stellte der Kooperative ihren Wagen zur Verfügung und
vermittelte zwischen der MFA, dem IRA30 und den Besetzer*innen (vgl. Daney 1977a: 45).
Trotz zahlreicher vorangegangener Besetzungen und Kooperativgründungen, sogar in unmit-
telbarer Nähe von Torre Bela, gibt sich Harlan sehr überzeugt von der eigenen Einflussnahme:
„Der große Unterschied zu dem, was man ein Dokument nennen könnte, ist, dass das meiste,
was passiert ist, ohne uns nicht geschehen wäre“ (Hübner 2006: 00:18:30). Die ursprüngliche
agitatorische Motivation, einen Film zu machen, um diesen in anderen Kooperativen im Süden
Portugals zu zeigen, verlor sich über den Drehverlauf. Harlan und sein Filmteam spitzten, wie
„delegierte Kommissare im Untergrund“ (Hübner 2006: 00:21:58), den politischen Prozess der-
art zu, dass sie absichtsvoll, „wie beim Bau einer Intrige“, eine dokumentarische Wirklichkeit
provozierten: „Wirklichkeit, die es sonst gar nicht gegeben hätte. Hergestellt durch das Zusam-
menführen von Fremden“ (Hübner 2006: 00:19:48).
Die Kamera ist dabei ein Mittel zur Herstellung von Situationen. Sie kann Aufmerksamkeit
erzeugen und dadurch die Dynamik in der Gruppe bewusst verändern. Dies tat auch das Film-
team, als es die Gruppenmitglieder über ihren Anführer Wilson31 aufklärte, der seit längerem
im Herrenhaus übernachtete. Indem das Filmteam Wilson aus dem Aufnahmefokus nahm,
destabilisierte es seine Position in der Gruppe. Dass sich Harlan dadurch dem Vorwurf der
Manipulation aussetzt, ist ihm bewusst:
Wichtig ist, dass es objektiv ein Modell der Manipulation ist. […] So ist Wirklichkeit durch Mani-
pulation entstanden und der Film ist ein Film, den wir uns in der Wirklichkeit, nicht als Film, son-
dern als Wirklichkeit ausgedacht haben. Und davon zeugt er. Und ist eine vollkommene Umdre-
hung des Dokumentarfilms. (Hübner 2006: 00:22:08)
Harlan ist fasziniert von der Macht der Kamera, mit der man eine politische Situation beein-
flussen kann. Die Rolle als Außenstehender, der an einen fremden Ort kommt, ist dabei für
Harlan entscheidend:
30 Instituto da Reforma Agrária, dt. Institut der Agrarreform.
31 Wilson Filipe war ursprünglich Sohn einer Bauernfamilie aus dem nahen Ort Manique do Intendente. Er hatte
in den Kolonialkriegen gekämpft und war vor der Revolution für eine längere Zeit aufgrund eines Banküber-
falls sowie vermeintlicher Zuhälterei inhaftiert. Vor der Besetzung wurde er zum Vertreter der Protestierenden
gewählt und versuchte in Verhandlungen mit dem Ministerium für Arbeit eine Nutzung des Landgutes durchzu-
setzen. Nachdem dies scheiterte, entstand die Idee einer Besetzung. Siehe: (Pisani 1978: 67) und (Bermeo 1986: 81f.).
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Mobile Culture Studies, Volume 2/2020
The Journal
- Title
- >mcs_lab>
- Subtitle
- Mobile Culture Studies
- Volume
- 2/2020
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 270
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal