Page - 8 - in Mobile Culture Studies - The Journal, Volume 4/2018
Image of the Page - 8 -
Text of the Page - 8 -
8 Mobile Culture Studies. The Journal 4 2o18
Joachim Schlör, Johanna Rolshoven | Künstlerische Positionen und Ausdrucksformen
Worin besteht aber diese Krise, die Europa und die in der EU versammelten Nationalstaa-
ten auf unterschiedliche Weise derzeit herausfordert? Besteht sie in der Ankunft einer unerwar-
tet großen Zahl von Migranten und Migrantinnen seit dem Sommer 2015 und in den nicht
zu leugnenden Erschütterungen, die diese Ankunft ausgelöst hat? Besteht sie in den gesell-
schaftlichen Verwerfungen, vom Brexit über die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der
USA, den illiberalen Tendenzen in Ländern wie Ungarn, Polen und Italien, bis zur Formierung
populistischer, nationalistischer und fremdenfeindlicher Bewegungen und Parteien selbst im
Herzen Europas? Stellen diese Verwerfungen unseren naiven Glauben an die Tragfähigkeit
liberaler Demokratien mit den Prinzipien der Gewaltenteilung und der Grundrechte auch von
Minderheiten in Frage? Alles scheint neu auf dem Prüfstand zu stehen: Identitäten und Zuge-
hörigkeiten, Kulturbegriffe, Heimatgefühle, Aspekte von Geschichtlichkeit und historischem
Bewusstsein, die Bedeutung von Grenzen und Öffnungen, selbst jede alltägliche kulturelle
Praxis wie das Grüßen oder das Bewirten von Gästen – und vor allem die Sprache, in der wir
uns über diese Dinge verständigen.
In dieser Situation sind aus unserer Sicht Wissenschaften wie die Kulturanthropologie und
die Empirische Kulturwissenschaft in besonderer Weise herausgefordert. Das sind „unsere“
Themen, die schon 1978 von Hermann Bausinger, Utz Jeggle, Gottfried Korff und Martin
Scharfe in den Grundzügen der Volkskunde entwickelt wurden.2 Haben diese Wissenschaften
auch einen politischen Auftrag?3 Wenn ja, worin sollte der in diesem Fall bestehen? Was könnte
unser spezifischer Beitrag zu einer gesellschaftlichen Verständigung, in angemessener Sprache,
über diese Themen sein? Die Wochenzeitung DIE ZEIT und zehn Medienpartner haben, unter
der Schirmherrschaft des deutschen Bundespräsidenten, eine Initiative „Deutschland spricht“
ins Leben gerufen, um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die – nicht nur in der
Flüchtlingspolitik – unterschiedliche Ansichten vertreten. Könnten wir mit unserer Arbeit auch
eine solche Plattform anbieten? Das könnte schwierig werden, noch sind asylkritische oder gar
„identitäre“ Positionen – aus unserer Sicht: erfreulicherweise – nicht im Fach zu hören. Das
könnte einen aber auch misstrauisch machen: Haben wir uns, als Teil der gerade aus allen
Richtungen stark angefeindeten „Elite“, so weit vom „Volk“ entfernt, dass bestimmte Ansichten
gar nicht bis zur Ebene der Kongresse und Zeitschriften durchdringen? Oder geht eine solche
Frage schon zu weit auf diejenigen ein, die sich lautstark für „das Volk“ erklären und zugleich
andere ausgrenzen? Wie sicher sind wir unserer eigenen Meinungen?
Kunst provoziert. Im besten Falle stellt sie auch unbequeme Fragen, fordert gewohnte Sicht-
weisen und Überzeugungen heraus – und nicht nur die der „anderen“. Deshalb meinen wir, dass
eine Untersuchung und Präsentation künstlerischer Auseinandersetzungen mit Migration und
Mobilität eine gute Gelegenheit bietet, diese komplexen Fragen zu diskutieren. Damit stehen wir
natürlich nicht alleine. Burcu Dogramaci hat sich in dem von ihr herausgegeben Band Migra-
tion und künstlerische Produktion mit der Frage beschäftigt, „welche Bedeutung Einwanderung
für künstlerische Produktion und Praktiken, für neue Ideen, Bilder, Methoden und Theorien
hat“ und wie das „zunehmende Interesse von Künstlern an Themen wie Heimat und Fremde,
2 Hermann Bausinger, Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe. Grundzüge der Volkskunde. (Darmstadt:
WBG, 1978).
3 Johanna Rolshoven, Ingo Schneider (Hrsg.), Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen
der Empirischen Kulturwissenschaft (Berlin: Neofelis, 2018).
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 4/2018
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 4/2018
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2018
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 182
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal