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10 Mobile Culture Studies. The Journal 4 2o18
Joachim Schlör, Johanna Rolshoven | Künstlerische Positionen und Ausdrucksformen
500 Meter zurück, den Sitzberuf des Schneiders ebenso mitgezählt, wie die ewige Wanderschaft
der Bettler und Unbehausten, verzwanzigfachte sich diese Zahl im Verlauf des 20. Jahrhun-
derts. Entortung heiĂźt das Leitwort, mit dem diese Begleiterscheinung der Globalisierung gek-
ennzeichnet wird. [...] So ist es gut, dass es Kräfte gibt, die den Unort in Anspruch nehmen,
und gleichzeitig mit anderen teilen. Ich rede von Kunst, die das andere Prinzip verkörpert, aber
deshalb noch lange nicht einfach das Gegenteil ist. Auch wenn Kunst das Andere repräsentiert,
ist sie insgesamt nicht ortlos [...]. Das Zwischen ist das Königreich der Heimatkunst, sie liebt
keine besitzergreifende Eindeutigkeit, sondern das vielsinnige Schweben zwischen den Kulturen.
Das ist der Reichtum, der einer einseitigen Leitkultur fehlt. Heimatkunst ist kein Ersatz, kein
Reservat, keine Herberge zur Heimat, sie hält auch Ausländer und einheimische Fremde aus.
Die Bewegung ist ihr Ziel; sie kommt im Reisen an, verzichtet auf naive Heimatei und findet
eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen. Heimatkunst ist gewissermaĂźen die BrĂĽcke, die den
Ăśbergang zum Anderen erlernbar macht, ohne das Eigene zu vergessen. Heimatkunst ist nicht
nur die Suche nach der Kunst in der Heimat, sondern auch die Klärung der Frage nach der
Heimat in der Kunst [...] Kunst ist das Andere, das sich nicht einfach erschließen läßt, sondern
das Heimat öffnet, und deren Verheißung erzählt.“7
Heimat und Exil stehen in einem dialektischen Zusammenhang. Wer ins Exil geht, wer emi-
griert, verlässt eine Gegend, die Heimat war und in der das Leben schwierig oder sogar uner-
träglich wurde, erreicht dann – wenn es gelingt – eine neue Gegend, die Heimat werden soll.
Für diesen Prozess ist viel Kreativität erforderlich: Emigranten müssen sich ein Bild von der
Welt machen, eine neue „geographical imagination“ aufbauen,8 transnationale Kontakte knüp-
fen, sich über Arbeits- und Integrationsmöglichkeiten kundig machen, Wege finden. Was der-
zeit auf dem Mittelmeer und vor den Hafenstädten der „Festung Europa“ geschieht, illustriert
dies auf dramatische Weise. Dabei richtet sich der Blick der Ă–ffentlichkeit, auch der Medien,
zwangsläufig auf Migranten als Opfer – von Politik, Ökonomie oder gefährdeter Umwelt, von
Schleusern und von Aufnahmegesellschaften, denen die kurzfristig ausgerufene „Willkom-
menskultur“ abhanden gekommen ist. Zu selten wird das kreative Potential der Migrierenden
und des Prozesses der Migration herausgearbeitet. Und hier könnte der Forschung zur aktuellen
Migration tatsächlich ein Blick auf die Entwicklung der Forschung zur historischen Auswan-
derung weiterhelfen. Vor allem die von der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland
erzwungene Emigration von Juden und politischen Opponenten des Regimes hat zuletzt neue
Perspektiven angeboten.
In seinem Buch Erfahrungen beschreibt Hans Habe die Situation des Emigranten, der,
einmal fremd gemacht, zum Fremden gemacht, nirgendwo mehr heimisch werden kann; Habe
stellt aber der Trauer, die solche Darstellungen immer umschlieĂźt, eine ĂĽberraschend positive
Einschätzung zur Seite: „Weil die Emigranten von gestern nirgends zu Hause sind (...), sind
sie ĂĽberall zu Hause, wer keine Heimat hat, dessen Heimat ist die Welt, neben dem Kainsmal
gibt es auch ein Abelsmal.“9 Heimatlosigkeit wird, zwangsläufig und freilich gegen den Willen
7 Utz Jeggle, Vortrag „Heimat Kunst“, Rottenburg 2001, https://www2.lmz-bw.de/fileadmin/user_upload/Medi-
enbildung_MCO/fileadmin/bibliothek/jeggle_heimat/jeggle_heimat.pdf
8 Derek Gregory, Geographical Imaginations (Oxford: Blackwell, 1994).
9 Hans Habe, Erfahrungen (Olten: Walter verlag, 1973), S. 233. Siehe auch Siehe Peter Burke, Exiles and expatri-
ates in the history of knowledge, 1500-2000 (Waltham, Massachusetts: Brandeis University Press, 2017).
Mobile Culture Studies
The Journal, Volume 4/2018
- Title
- Mobile Culture Studies
- Subtitle
- The Journal
- Volume
- 4/2018
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2018
- Language
- German, English
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 182
- Categories
- Zeitschriften Mobile Culture Studies The Journal