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Roswitha Jacobsen
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kann keineswegs als Umfüllen ein und desselben Gehalts in ein anderes Behältnis ver-
standen werden. Jede Übersetzung ist »Resultat einer sprachlich-textuellen Operation«,20
in deren Verlauf aufgrund der Strukturverschiedenheit der Sprachen unterschiedliche
Äquivalenzrelationen zu berücksichtigen sind, die ihr unvermeidlich und mehr oder min-
der stark den Charakter einer Bearbeitung verleihen.21 Die Unterschiede der Sprachen
sind gerade auch Unterschiede ihrer Medialität. Da Medien als »Modi kommunikativer
Sinnproduktion«22 nicht schlechthin etwas vermitteln, das ihnen vorgängig wäre, son-
dern durch ihre Struktur eine spezifische Wirklichkeit hervorbringen, die es ohne sie
nicht gäbe,23 wäre es verfehlt, von einer Identität der beiden Stücke auszugehen. Keil
reflektiert das auch selbst in seiner Vorrede, wenn auch lediglich in Verbindung mit dem
Bescheidenheitstopos: Er wünscht, dass seine »schwache Feder« die »Liebligkeit« seiner
italienischen Vorlage auszudrücken imstande sei. Ganz grundsätzlich verhält sich der
übersetzte Text zu seiner Vorlage wie ein Hypertext zum Hypotext: Er adaptiert ihn,
ohne ihn auch nur potentiell im 1:1-Verhältnis wiedergeben zu können.24
Nebenbei stellt sich auch die Frage, warum das Libretto überhaupt übersetzt werden
musste, da nicht nur in Wien, sondern auch an anderen Höfen des Reiches, nicht zu-
letzt am kursächsischen Hof in Dresden, die italienische Sprache in der Oper bevorzugt
wurde. Möglicherweise wirkt hier immer noch der Anspruch der Fruchtbringenden
Gesellschaft nach, dem sich Friedrich I. ausdrücklich verpflichtet fühlte. Zumindest
deutet darauf der Textdruck einer Gelegenheitsschrift zu Herzog Friedrichs Geburtstag
1687 hin, in der der Kammerdiener und Reisebegleiter des Herzogs Johann Christian
Emmerling seinen Herrn tituliert als »in der Fruchtbringenden Gesellschaft der Aller-
liebste« 25 und ihn damit explizit in den Kontext der 1. Deutschen Akademie stellt, wie-
wohl diese ihre Tätigkeit längst eingestellt hatte. Jedenfalls sind sämtliche überlieferte
Libretti des Musik- und Tanztheaters der 1670er und 1680er Jahre in Gotha in deutscher
Sprache abgefasst.26
Eine nicht minder gravierende Transformation erfährt der Text durch seine auf die
Gothaer Situation zugeschnittenen paratextuellen Rahmungen. Titel, Widmung, Vorrede
und Nachspiel verankern das Stück zeitlich, örtlich und funktional in seinem spezifischen
20 Koller 1997, S. 16.
21 Stolze 2011, S. 54. Poststrukturalisten wie Derrida und Paul de Man haben aufgrund dessen von der
»Unübersetzbarkeit« von Texten aus einer in eine andere Sprache gesprochen. Vgl. ebd., S. 32.
22 Crivelleri / Kirchmann /
Sandl / Schlögl 2004, S.
32.
23 Vgl. z. B.: Fromme / Iske / Marotzki 2011, S. 10; Leschke 2003, insbes. S. 224–229.
24 Folglich hat sich die Untersuchung des Singspiels in seinem Gothaer Kontext auf die Analyse des der
Aufführung zugrundeliegenden deutschsprachigen Librettos zu beziehen, nicht auf den italienischen
Hypotext.
25 So in einem in der UFB Gotha überlieferten Textbuch, Signatur: Poes 4° 2164–2165, Nr. 39.
26 Auch das erwähnte Fragment einer Oper in französischer Sprache (s. Anm. 14) war schon teilweise ins
Deutsche übertragen worden.
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Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
Hof – Oper – Architektur
- Title
- Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
- Subtitle
- Hof – Oper – Architektur
- Authors
- Margret Scharrer
- Heiko Laß
- Editor
- Matthias Müller
- Publisher
- Heidelberg University Publishing
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-947732-36-4
- Size
- 19.3 x 26.0 cm
- Pages
- 618
- Keywords
- Kunstgeschichte, Architektur, Oper, art history, architecture, opera
- Category
- Kunst und Kultur