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Hans Lange
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herzoglichen Palazzo della Riserva von Stefano Lolli,66 1717 in Domenico Barbieris Regio
Ducal Teatro, dem Vorgängerbau der Scala im Palazzo Reale im habsburgischen Mailand
und 1733 im Nuovo Teatro Arciducale im ebenfalls habsburgischen Mantua.67 Die Gründe
für den allmählichen Rückzug des Souveräns aus dem Parterre sind vielschichtig: Seit
Klengels Dresdner Opernhaus und dem von Santurini oder Tommaso Giusti 1689 einge-
richteten kurfürstlichen Schlossopernhaus in Hannover kannte man die fußläufige Ver-
bindung aus den Appartements im piano nobile ins Theater, analog zu den älteren Kirchen-
stühlen.68 Im 18. Jahrhundert kam im Zuge wachsender Ansprüche an die commodité ein
stärkeres Bedürfnis hinzu, sich vom Publikum hinter dem Rücken nicht mehr inkommo-
diert zu fühlen, sondern es im Angesicht zu haben. Schließlich sind die Folgen der von
Ferdinando Bibiena erfundenen scena per angolo69 in Rechnung zu stellen, die erstmals
eine angenehmere Sicht von oben auf die Bühne70 und auch den Zuschauern an der Peri-
pherie des Saals einen befriedigenden Blick auf die nicht mehr zentral fokussierte Szene
ermöglichten.
Widersprüchlicher als in Italien verlief dieser Prozess in den von den Bibiena errichte-
ten Hoftheatern im Reich, in deren Zuschauerräumen in der ersten Hälfte des 18.
Jahrhun-
derts die formal originellsten Hoflogen entstanden, beginnend mit Francesco Bibienas die
ganze Saalhöhe einnehmenden, dreiachsigen und dreigeschossigen Kaiserloge im großen
Wiener Opernhaus, 1704 (Abb. 9).71 Der gewaltige statuenbesetzte Prospekt mit seinen
konvex vor- und konkav zurückschwingenden Brüstungen knüpfte im vertikalen Aufbau
an Triumph- und Ehrenpforten an,72 steigerte sie zu einem »secondo proscenio«, indem
er die große Ordnung des Bühnenportals aufgriff, und machte so den Einzugsbogen einer
Ehrenpforte zum durch einen ephemeren Baldachin symbolisch markierten Aufenthalts-
ort des Herrschers. Das galt auch dann, wenn der Kaiser in der Regel nicht hier, sondern
immer noch meistens im Parterre Platz nahm.73 Die Ausdehnung der Loggia auf den größ-
ten Teil der Saalrückwand über alle drei Ränge und das damit verfügbare Platzangebot er-
laubte dem Monarchen, inmitten seines vertikal geordneten exklusiven Gefolges mit einem
coup de théâtre auf seinem Platz zu erscheinen und nicht vor aller Augen den Weg dorthin
zurückzulegen.
66 Vetro 2010.
67 Aust. Kat. Mailand 1991, S. 391–392; Lenzi 1985A, S. 167–171.
68 Wallbrecht 1974, S. 50; Schrader 1988, S. 54–60. Hier saß Kurfürst Ernst August allerdings in der
ersten Seitenloge rechts nächst der Bühne, eine Praxis, die die Könige aus dem Haus Hannover nach
London brachten, in dessen Theatern, wie im übrigen Großbritannien, eine axiale Hofloge vor 1855
niemals eingerichtet wurde.
69 Müller 1986.
70 Sommer-Mathis 1995, S. 520.
71 Sommer-Mathis 1992, S. 26–27; Karner 2014, S. 373–376.
72 Greiselmayer 1993, S. 333–334.
73 Sommer-Mathis 1995, S. 520. Für andere Orte, etwa die kaiserliche Loge in J. B. Fischers Winterreit-
schule der Hofburg gab es eine solche Alternative nicht.
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Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
Hof – Oper – Architektur
- Title
- Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
- Subtitle
- Hof – Oper – Architektur
- Authors
- Margret Scharrer
- Heiko Laß
- Editor
- Matthias Müller
- Publisher
- Heidelberg University Publishing
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-947732-36-4
- Size
- 19.3 x 26.0 cm
- Pages
- 618
- Keywords
- Kunstgeschichte, Architektur, Oper, art history, architecture, opera
- Category
- Kunst und Kultur